Wochenlang herrscht in der bayerischen Kleinstadt Weißenhorn Aufregung um eine Müllverbrennungsanlage. Das .ausgestrahlt-Magazin ist daran nicht ganz unbeteiligt.
Als Herbert Richter im Herbst 2018 im .ausgestrahlt-Magazin Nr. 41 blättert, stutzt er. Ein Beitrag thematisiert den Verbleib von gering radioaktiven Abfällen aus dem AKW-Abriss. Richter erfährt, dass AKW-Betreiber strahlendes Abbruchmaterial an einfache Abfallbetriebe abgeben. Und zwar völlig legal. Mehrere Millionen Tonnen Atomschutt könnten in den kommenden Jahrzehnten wie ganz normaler Hausmüll im Recycling, auf Deponien oder in Müllverbrennungsanlagen (MVA) landen. Herbert Richter ist alarmiert. Der 51-jährige lebt in Weißenhorn, einer Kleinstadt im Landkreis Neu-Ulm in Bayern. Dort gibt es eine Müllverbrennungsanlage. Und gleich nebenan, im Nachbarlandkreis Günzburg, steht ein Atomkraftwerk: Das AKW Gundremmingen Block C des Kraftwerks soll nach dem Willen von RWE noch bis Ende 2021 laufen. Block B hingegen stellte Ende 2017 seinen Betrieb ein und wird seit Kurzem rückgebaut.
Der Müll brennt längst
Richter, der als Kreisrat für die SPD im Neu-Ulmer Umweltausschuss sitzt, zählt eins und eins zusammen und wird aktiv. Dass der Landkreis Günzburg seine Abfälle in der Weißenhorner MVA verbrennt, ist längst bekannt. Darüber gibt es Verträge zwischen den beiden Landkreisen. Doch was ist, wenn demnächst die ersten größeren Abrissarbeiten am AKW Gundremmingen beginnen? Brennen in dem Weißenhorner Müllheizkraftwerk dann womöglich auch radioaktiv belastete Abfälle? Der Kreisrat stellt eine Anfrage beim Betreiber der Abfallanlage. Dieser bestätigt Richters Befürchtungen: Es ist geplant, die brennbaren Überreste des AKW Gundremmingen in Weißenhorn zu entsorgen – darunter auch schwach strahlende Abfälle. „Das ist ein sensibles Thema, das auf uns zukommen könnte. Das sollte an die Öffentlichkeit gehen“, fordert Richter daraufhin im Neu-Ulmer Umweltausschuss.
Von da an berichtet die regionale Presse wochenlang und zeitweise sogar täglich über das Thema. Schnell wird klar, hier geht es nicht allein um Zukunftspläne: „In Weißenhorn brennt längst AKW-Müll“ titelt die Neu-Ulmer-Zeitung am 25. Januar. Denn bereits seit zwei Jahren werden im Weißenhorner Müllofen Betriebsabfälle aus dem Atomkraftwerk verfeuert, auch radioaktiv belastetes Material. Und niemand wusste Bescheid, weder die Bevölkerung, noch der Kreistag, noch der Weißenhorner Bürgermeister Wolfgang Fendt. Die Empörung ist groß. „Ich habe bis zum heutigen Tag noch nie davon gehört“, klagt Fendt. Wenn radioaktiver Müll nach Weißenhorn komme, erwarte er, dass die Kommune informiert werde.
Weißenhorn ist kein Einzelfall
Haben AKW- und MVA-Betreiber ihre Informationspflicht verletzt, weil sie die Öffentlichkeit oder die örtlichen Behörden nicht über die Verbrennung von radioaktivem Müll in Kenntnis gesetzt haben? Juristisch besteht eine derartige Informationspflicht gegenüber der betroffenen Bevölkerung wohl nicht. Denn schwach strahlende Abfälle, die das AKW-Gelände verlassen, gelten – die Physik auf den Kopf gestellt – rechtlich nicht mehr als radioaktiv. Der Gesetzgeber nennt dieses Verfahren „Freigabe“: Unterschreiten radioaktive Stoffe gesetzlich festgelegte mengen- und nuklidabhängige Grenzwerte, gelten sie als „freigemessen“ und werden aus dem Atomrecht entlassen. Sodann sind die Abfälle „nur“ noch physikalisch radioaktiv – juristisch wird der Atommüll zu Hausmüll.
Das Freigabe-Verfahren wurde eingeführt, um das Atommüll-Volumen zu verringern und den AKW-Betreibern somit immense Kosten zu ersparen. Weißenhorn ist beileibe kein Einzelfall. Bereits seit Mitte der 1990er-Jahre deklariert die deutsche Atomindustrie leicht strahlende Abfälle als Hausmüll und gibt sie an Recyclingbetriebe, Deponien oder Müllverbrennungsanlagen ab – vornehmlich in Kraftwerksnähe. Wie in Weißenhorn geschieht dies in der Regel ohne Kenntnis der Anwohner*innen. Und das, obwohl ihnen eine zusätzliche Strahlenbelastung und damit ein höheres Gesundheitsrisiko zugemutet wird.
Nicht für große Mengen gemacht
Das von der Atomindustrie entwickelte Freigabe-Konzept spekuliert auf Verdünnungseffekte. Ursprünglich gedacht für einzelne Abfallchargen, nimmt es mit dem Abriss der Atomkraftwerke eine ganz neue Dimension an. Denn hierbei fallen immens große Mengen schwach radioaktiver Abfälle an. Das vergrößert zum einen die Gefahr, dass Hotspots entstehen, an denen sich Radioaktivität konzentriert. Zum anderen steigt mit der Menge freigegebener radioaktiver Stoffe auch das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung. Denn bei der Berechnung des für die Freigabe maßgeblichen Risikowertes von 10 Mikrosievert pro Jahr bleiben die Gesamtmenge und die Häufigkeit der Strahleneinwirkung unberücksichtigt. Dass der menschliche Körper Strahlenschäden nicht vergisst und jede zusätzliche Strahlenbelastung obendrauf kommt, ist unumstritten. Es gibt keine Dosisschwelle, unterhalb derer Strahlung nicht schädlich wäre. Das ist längst wissenschaftlicher Konsens. Dessen ungeachtet versuchen Atomindustrie und Atomaufsichtsbehörden in alter Tradition, Niedrigstrahlung zu verharmlosen, um die Bedenken gegen Strahlenemissionen in der Bevölkerung klein zu halten.
So tritt auch im Fall Weißenhorn die Sprecherin des AKW Gundremmingen an die Presse heran, um zu beschwichtigen: „Niemand muss sich Sorgen machen.“ Der Abfall, behauptet sie, sei so gering belastet, dass davon keine Gefahr für die Gesundheit ausgehe.
Die Bevölkerung ist sensibilisiert
Noch bis Herbst 2025 läuft der Müll-Vertrag zwischen den Landkreisen Neu-Ulm und Günzburg. Bis dahin wird der Weißenhorner Müllofen weiterhin auch mit strahlenden Abfällen aus Gundremmingen befeuert – und das werden, da der Abriss von Block B begonnen hat, deutlich mehr sein als in den Jahren zuvor. Wie es nach 2025 weitergeht, ist unklar. Vorerst sieht der Neu-Ulmer Landrat Thorsten Freudenberger keine Grundlage dafür, den Vertrag mit dem Nachbarlandkreis vorzeitig aufzukündigen. Dies hätte obendrein Konsequenzen. Die Abhängigkeit zwischen den Landkreisen ist nicht einseitig: Neu-Ulm nutzt Deponieflächen in Günzburg. Ganz so wie bisher soll es mit der Verbrennung der AKW-Abfälle allerdings nicht weitergehen. Freudenberger hat Radioaktivitätskontrollen an der MVA angekündigt. Die Messungen sollen engmaschig ausgewertet und für die Bürger*innen transparent gemacht werden. Außerdem werde das Öko-Institut damit beauftragt, eine Handlungsanleitung für die Verbrennung freigegebener radioaktiver Abfälle zu entwickeln. Herbert Richter, der den Stein ins Rollen gebracht hat, sieht in den Maßnahmen zwar eine Verbesserung zur bisherigen Praxis, er ist jedoch weiterhin gegen die Freigabe von radioaktiven Abfällen. Zum Schutz von Mensch und Umwelt gehörten diese nicht ins Recycling, auf Deponien oder in Müllverbrennungsanlagen. Solange die gesetzliche Grundlage nicht geändert wird, sieht er jedoch wenig Chancen, die Verbrennung von freigemessenen Abfällen an seinem Wohnort zu stoppen. Es sei wichtig, dass die Bevölkerung jetzt informiert und für das Thema sensibilisiert sei, sagt Richter. Er denkt nicht, dass der Landkreis mit dem Wissen von heute noch einmal ein Vertragsverhältnis eingehen würde, das die Verfeuerung von strahlendem Müll beinhaltet: „Das wäre alles etwas anders gelaufen, wenn wir informiert gewesen wären.“
weiterlesen:
-
AKW-Müll soll wieder verheizt werden
21.02.2019 - Gegen alle Bedenken soll ab März wieder AKW-Müll aus Gundremmingen verbrannt werden. Im Müllheizkraftwerk Weißenhorn „laufen die Vorbereitungen auf den Tag X“. -
IPPNW: Radioaktiven Müll nicht verfeuern
11.02.2019 - Im bayerischen Weißenhorn wurde die Anlieferung von radioaktiven Abfällen aus dem Atomkraftwerk Gundremmingen in die dortige Müllverbrennungsanlage gestoppt. Der IPPNW warnt, dass die Verbrennung die Radioaktivität nicht aus der Welt schaffe, sondern nur neu in der Umgebung verteilt. -
„Es gibt keine ungefährliche Strahlung“
06.02.2018 - Der Schweizer Onkologe Dr. med. Claudio Knüsli konnte nachweisen, dass auch sehr geringe Strahlungswerte gesundheitliche Folgen haben. Der IPPNW fordert eine Neubewertung des Risikos zum Beispiel durch AKW-Bauschutt. -
Wenn in Deutschland Atomkraftwerke abgerissen werden, landet das Abrissmaterial zu ca. 99 Prozent in der „Mülltonne“. Darunter auch Tausende Tonnen gering radioaktive Abfälle. Strahlender Atomschutt wird also recycelt, verbrannt und deponiert. - Hintergrundinfos
-
Deponie außer Kontrolle
14.12.2018 - „Heimlich“ wurde Abrissmaterial aus dem Atomkraftwerk Obrigheim auf eine Deponie gebracht. Atomkraftgegner*innen üben heftige Kritik an diesem „Freimess-Verfahren“ und warnen vor langfristigen Risiken. Aktuelle Messwerte aus Mecklenburg-Vorpommern bestätigen das.