Studie: Alte Meiler bedrohen Millionen Menschen

22.05.2019 | Jan Becker

Seit einem halben Jahrhundert ist das Atomkraftwerk Beznau-1 schon in Betrieb. Sollte sich in einem der schweizerischen AKW ein großer Unfall ereignen, wären in Europa mehr als hunderttausend Strahlenopfer zu erwarten.

Schweiz: Ausbreitung von radioaktiver Strahlung nach GAU
Foto: Biosphere Institute, https://institutbiosphere.ch
Schweiz: Ausbreitung von radioaktiver Strahlung nach GAU

Seit 1969 ist die Schweiz ein Atomland. Im September 1969 wurde Beznau 1 nach vier Jahren Bauzeit in Betrieb genommen. Der Meiler ist heute der älteste noch betriebene der Welt und war zuletzt wegen hunderter Risse im Reaktorbehälter drei Jahre lang vom Netz. Das AKW Leibstadt ist mit der Inbetriebnahme 1984 der „jüngste“ Meiler, heute aber auch schon 35 Jahre am Netz.

Mit jedem Betriebstag wächst das Risiko eines schweren Unfalls. Je älter der Reaktor, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Materialversagen, heißt es in einem 2014 veröffentlichten Greenpeace-Report. Trotz Nachrüstungen und Reparaturen verschlechtert sich der Zustand wichtiger Bauteile im Laufe der Jahrzehnte. Zwischenfälle und Komplikationen nehmen zu.

„Die überalterten Atomkraftwerke sind tickende Zeitbomben. Der Weiterbetrieb ist absolut unverantwortlich", sagte Heinz Smital, Kernphysiker und Greenpeace-Atomexperte 2014. „Die maroden Uralt-Meiler müssen unverzüglich vom Netz gehen bevor es zu einem schweren Unfall mit Auswirkungen für ganz Europa kommt."

Hunderttausend Strahlenopfer zu erwarten

Ein interdisziplinäres Team aus Wissenschaftler*innen der Universität Genf und des Genfer Institut Biosphère untersuchte in einer neuen Studie die Folgen einer Reaktorkatastrophe in einem der vier Schweizer Atomkraftwerke Leibstadt, Gösgen, Beznau (zwei Blöcke) und Mühleberg. Zusätzlich wurde das französische AKW Bugey betrachtet, das sich unweit der Landesgrenze befindet.

Die Forscher haben moderne meteorologische Berechnungen, neue medizinische Erkenntnisse und die Bevölkerungsdichte in möglicherweise betroffenen Regionen berücksichtigt. Das Ergebnis: Sollte sich in einem der Meiler ein großer Unfall ereignen, wären in Europa bei ungünstiger Wetterlage mehr als hunderttausend Strahlenopfer zu erwarten. Die Strahlungswerte würden auf ein Dreißigfaches gegenüber der Werte steigen, mit denen der Katastrophenschutz plane.

„Die Schweiz ist auf einen großen Kernkraftwerksunfall unzureichend vorbereitet“, heißt es von den Mitherausgeber*innen der Studie, der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) und des französischen Netzwerks für den Atomausstieg „Sortir du nucléaire“.

Aufgrund der Lage der Atomkraftwerke ist kein Land so stark betroffen wie Deutschland, 30-40 Prozent der Bevölkerung könnte radioaktiver Kontamination ausgesetzt sein. Selbst bei geringen Windgeschwindigkeiten von 10-20 km/h wäre die radioaktive Wolke innerhalb von drei bis sechs Stunden über deutschen Großstädten. Durch einen schweren Unfall in der Schweiz wären laut Studie rund zwanzig Millionen Personen in Europa betroffen.

Neben konkreten Mängeln in den betrachteten Reaktoren analysierten die Forscher*innen auch die bisherigen Katastrophen in AKW wie Fukushima, Harrisburg oder Tschernobyl und beurteilten damit das Risiko eines schweren Unfalls als „relevant“. Auch weil die untersuchten Atomreaktoren in der Schweiz mit zu den ältesten der Welt zählen.

„Es reicht nicht, dass wir in Deutschland die Atomkraftwerke abschalten – es ist überfällig, dass die deutsche Bundesregierung mit der Schweizer Regierung und im Rahmen der EU entschieden auf den europaweiten Atomausstieg hinarbeitet“, fordert die europäische IPPNW-Vizepräsidentin Dr. Angelika Claußen.

weitere Infos:

weiterlesen:

  • Zweifache Notbremse im AKW Leibstadt
    14.05.2019 - Eine „Schnellabschaltung“ in einem Atomkraftwerk ist eine Notfallmaßnahme, die alle betroffenen Komponenten aufs Äußerste beansprucht. Das AKW Leibstadt musste jetzt gleich zwei Mal in Folge diesen Belastungen standhalten. Atomkraftgegner*innen sprechen vom „unzuverlässigsten AKW mit den größten nuklearen Risiken“.

  • Atomkraft macht krank
    30.04.2019 - Dass die Menschen unter den Folgen der Nuklear-Katastrophe von Fukushima leiden, ist zweifelsfrei. Doch nun hat auch ein an Krebs erkrankter, ehemaliger Schweizer AKW-Mitarbeiter gute Chancen darauf, dass seine Erkrankung offiziell auf seine Arbeit im AKW zurückgeführt wird.

  • Atomunfall – sicher ist nur das Risiko
    Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.

Quellen (Auszug): srf.ch, ippnw.de, aargauerzeitung.ch, energiestiftung.ch

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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