Ein Blick zurück und einer nach Vorne: Der „Störfall-Kalender“ verdeutlicht die Vielzahl der unkalkulierbaren Pannen in Atomanlagen, die seit Beginn des Atomzeitalters zur Tagesordnung gehören.
Seit mehr als zehn Jahren füttere ich täglich eine Datenbank mit Medienartikeln über Themen rund um die Atomenergie. Viele der betroffenen Anlagen, die in dieser Störfall-Statistik auftauchen, sind heute glücklicherweise vom Netz. Pannen sind verzeichnet, die heute nicht mehr möglich sind, weil die dabei zugrunde gelegene Technologie heute der Vergangenheit angehört. Viele Anlagen jedoch sind bis heute in Betrieb und bis heute sind unablässig Unfälle zu verzeichnen. Es bleibt die Tatsache: Sicher ist nur das Risiko.
2.150 Störfälle – nur ein Ausschnitt
Die Einträge in der „Störfall-Datenbank“ reichen zurück bis zum Jahr 1944, als am Atomkomplex Hanford, Washington, USA, mit der Inbetriebnahme des Reaktors „B-Pile“ die Plutoniumproduktion begonnen wurde. Mehr als 40 Jahre lang wurde dort nicht nur Atombomben-Material produziert, sondern unkontrolliert immer wieder Radioaktivität in Luft, Wasser, Boden entlassen. Dies und die katastrophalen Reaktorunfälle von Harrisburgh, Tschernobyl oder Fukushima sind in die Datenbank geflossen. Der letzte Eintrag stammt von gestern, im französischen AKW Cattenom. Dort haben Teile der Notstromversorgung versagt.
Unzählige Meldungen von „INES 0“-Ereignissen, die Aufsichtsbehörden und Betreiber als „Ereignis ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung“ klassifizieren, sind in der Datenbank dokumentiert. Hier setzt die Kritik von Atomkraftgegner*innen an: Erst bei Betrachtung möglicher Folgefehler und deren Tragweite enthalten diese Defekte ein gefährliches (offiziell: Rest-)Risiko: sei es ein Transformatoren-Brand im AKW Krümmel (dicke Rauchschwaden umhüllten den Meiler), oder ein Kühlwasserleck im AKW Brunsbüttel.
Bis heute sind 2.150 Störfälle erfasst. Mit Sicherheit ist die Datenbank unvollständig. Zum Beispiel beschränkt sich die Recherche im Wesentlichen auf deutsche Anlagen und umliegende Länder. Was zunächst nur eine Zahl ist, warnt und mahnt dennoch gleichzeitig: Jeder weitere Tag, an dem Atomanlagen betrieben werden ist ein weiterer Tag mit dem Risiko von kleinen und auch großen Störfällen.
Technik wird optimiert – der Mensch bleibt unkalkulierbar
Nach aktuellen Berichten aus Russland wird dort derzeit am der "Optimierung" des AKW-Brennstoffs experimentiert. Durch Werkstoffänderungen oder auch hitzebeständige Beschichtungen will man so beispielsweise das Entstehen von Wasserstoff verhindern, wenn Stäbe bei einem Unfall überhitzen – Wasserstoffexplosionen haben in Fukushima zur Katastrophe geführt. Angesichts der aktuellen Expertimente spricht die russische Atombehörde Rosatom von einer „Revolution“, und träumt von einem weltweit neuen, milliardenschweren Aufschwung der Atomenergie.
Doch neben technischer Optimierung, immer neuer, angeblich „inhärent sicheren“ Reaktormodellen, mehr-strängigen Redundanzen und Rückfallebenen bleibt eins unkalkulierbar: Der "Unsicherheitsfaktor" Mensch. Von diesem „hänge viel ab“, sagt selbst der Vizepräsident des russischen Atombrennstoffherstellers Tvel, Alexander Ugrjumow. Selbst ein „revolutionärer Brennstoff“, so räumt Ugrjumow ein, werde „nicht alle Sicherheitsfragen lösen“.
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14.09.2018 - Das gemeinnützige Recherchezentrum CORRECTIVE hat in Zusammenarbeit mit dem RTL Nachtjournal und Mediapart von zwei Whistleblowern erfahren, dass es in deutschen, schweizerischen und französischen Atomkraftwerken erhebliche Defizite beim Brandschutz gibt.
Quellen (Auszug): handelsblatt.com; atomradar.ausgestrahlt.de, science.orf.at