Zum wiederholten Mal fallen im AKW Neckarwestheim‑2 Schäden an den Heizrohren der Dampferzeuger auf. Ein Leck dort, warnt ein ehemaliger AKW-Betriebsleiter, könnte unter Umständen eine nicht mehr beherrschbare Kettenreaktion im Reaktor nach sich ziehen.
Im AKW Neckarwestheim‑2 sind zum wiederholten Mal Schäden an Dampferzeuger-Heizrohren entdeckt worden. Messungen hätten mehr als 100 Rohre mit „rissartigen Wanddickenschwächungen“ identifiziert, mutmaßlich aufgrund von Spannungsrisskorrosion, teilte das baden-württembergische Umweltministerium mit. Die Risse ziehen sich quer um die Rohre, die normalerweise 1,2 Millimeter starken Wände sind stellenweise nur noch 0,1 Millimeter dick. Ähnliche Schäden, allerdings nur „punktförmige“, waren schon vor einem Jahr entdeckt worden. Diese haben sich inzwischen teilweise vergrößert. Das Ministerium geht von „Lochkorrosion“ aus. Noch vor einem Jahr hatte es diese aus chemisch-physikalischen Gründen für ausgeschlossen erklärt; Gutachter diagnostizierten stattdessen „Verschmutzungen“ im Wasser-Dampf-Kreislauf als Ursache, EnBW ergriff angeblich Gegenmaßnahmen. Zwei der vier Dampferzeuger waren damals gar nicht, ein weiterer nur stichprobenweise untersucht worden. Dennoch durfte der Reaktor wieder ans Netz.
Nächtliche Projektion auf das AKW Neckarwestheim am 26.10.18
Diesmal will das Ministerium auf weiterer Ursachenanalyse und einem Integritätsnachweis der Rohre bestehen. Eine Wiederinbetriebnahme werde erst genehmigt, „wenn nach Stand von Wissenschaft und Technik eine Heizrohrleckage ausgeschlossen werden kann“. EnBW müsse zudem für die Revision 2019 „umfangreiche Messungen und Heizrohrprüfungen“ zusagen.
Die Dampferzeuger-Heizrohre stellen die einzige Barriere zwischen dem radioaktiven Reaktorkühlwasser und dem nicht-radioaktiven Wasser-Dampf-Kreislauf dar. Bei einem Leck oder gar einem Abriss eines Heizrohrs könnte nicht nur Radioaktivität austreten, sondern unter Umständen auch der ganze Reaktor unkontrollierbar werden, warnen Experten.
Diplom-Ingenieur Helmut J. L. Mayer, 69, war 1975 als Jungingenieur bei der Inbetriebnahme des AKW Biblis B dabei, nahm den ersten AKW-Simulator in Deutschland mit in Betrieb, arbeitete an Störfallanalysen, schulte AKW-Personal und war Teil der Betriebsmannschaft des Reaktors, zuletzt als Betriebsleiter. Als von der Bundesregierung benannter Sachverständiger schrieb er bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) an Richtlinien zur Störfallbehandlung mit. 1990 verließ er RWE und wurde Leiter eines Industriekraftwerks. Mayer war Dozent an der Schule für Kerntechnik in Karlsruhe und lehrt heute Kraftwerkstechnik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim. erschien 2012.
Herr Mayer, Sie haben vor Jahren als erster vor einem schweren Störfall infolge eines Dampferzeuger-Heizrohr-Lecks (DEHL) gewarnt. Ist so ein Leck ein eher häufiger oder eher seltener Störfall?
So selten ist das sicher nicht. Vier Dampferzeuger mit jeweils ca. 4.000 Heizrohren, jedes im Schnitt etwa 13 Meter lang, das macht 200 Kilometer Rohre, Wandstärke 1,3 Millimeter, alle einzeln angeschweißt. Die müssen teilweise Druckunterschiede von 80 bar und Temperaturschwankungen von mehreren Hundert Grad aushalten. Das ist eine erhebliche Beanspruchung. Und weil sie innerhalb der Systeme sitzen, sind sie zudem recht schwer zu überwachen.
Es gibt aber zumindest Messungen bei den jährlichen Revisionen – so wie jetzt im AKW Neckarwestheim‑2.
Rohre, die über ein bestimmtes Maß hinaus beschädigt sind, werden dann verstopft. Trotzdem kann es passieren, dass durch Korrosion, Erosion und Spannungsrisskorrosion mal ein Heizrohr bricht. Auch in Biblis hatten wir eine Heizrohrleckage. Und mit zunehmender Alterung, die ja ein riesiges Problem der alternden Kraftwerke ist, lassen sich solche Lecks erst recht nicht absolut sicher vermeiden.
Ein Heizrohrleck an sich gilt als beherrschbar.
Das ist richtig. Gleichwohl gibt es eine relativ große Wahrscheinlichkeit, dass zusätzlich die Hauptkühlmittelpumpen ausfallen. Auch das habe ich bei einem vergleichbaren Fall erlebt. Das hängt mit den Druckverhältnissen zusammen. Bei einem DEHL kommt es zwangsläufig zu Rückströmungen, wobei Wasser aus dem Sekundärkreis in den Primärkreis eindringt. Bei ausgefallenen Pumpen wird sich dieses Wasser zuerst massiv ansammeln – und später wird es in den Reaktorkern gespült. Eine Absperrmöglichkeit gibt es in diesem Bereich nicht.
Warum ist das gefährlich?
Das Wasser aus dem Sekundärkreislauf enthält, anders als das im Primärkreislauf, kein Bor. Wenn eine größere Menge davon nicht oder nur gering durchmischt in die Zone mit den Brennstäben eindringt, steigt die Reaktivität des Reaktors stark an.
Die Kettenreaktion kommt wieder in Fahrt?
Genau das kann bisher nicht ausgeschlossen werden. Und weil die Abschaltstäbe schon komplett in den Kern eingefahren sind, können sie die Kettenreaktion nicht noch mehr bremsen – ein nicht zu beherrschender Störfall kann sich entwickeln.
Die Reaktorsicherheitskommission behauptet: Das passiert nicht. Weil die Menge an borfreiem Wasser, die in den Reaktorkreislauf eindringen könne, dafür nicht ausreiche und sich dieses zudem mit dem borhaltigen Wasser vermische, bevor es den Reaktorkern erreiche.
Ich bezweifle Berechnungen eigentlich nie, die Mathematik kann man nicht verbiegen. Aber man kann bestimmte Annahmen machen und so doch ein Ergebnis bekommen, das man sich wünscht. Genau das ist meiner Meinung nach hier passiert. Der entscheidenden Berechnung ist eine Annahme unterstellt worden, die total widersinnig ist und mit der Praxis gar nichts zu tun hat.
Nämlich?
Es wurde unterstellt, dass das Volumenregelsystem des Reaktors während des Störfalls nicht verfügbar ist. Das ist einfach unsinnig. Nach meinen Kenntnissen ist dieses System noch nie ausgefallen. Und es wird auch dringend benötigt zur Störfallbeherrschung.
Angenommen, dieses System funktioniert, wie es soll: Was ist dann das Problem?
In einem Reaktor wird immer ein Teil des Wassers aus dem Primärkreislauf entnommen, gereinigt, richtig boriert und dann wieder eingespeist. Das Volumenregelsystem sorgt dabei dafür, dass der Wasserstand im Reaktorkreislauf gleich bleibt. Dringt nun über das Leck im Dampferzeuger borfreies Wasser aus dem Sekundärkreislauf zusätzlich in den Reaktor ein, wird das Volumenregelsystem entsprechend mehr boriertes Wasser ausspeisen. Unterm Strich kann so deutlich mehr borfreies Wasser in den Reaktor gelangen als in der Untersuchung unterstellt. Das ist der entscheidende Fehler der Berechnung.
Das Umweltministerium behauptet, man habe sicherheitshalber unterstellt, dass sich die gesamte Leitung vom Dampferzeuger bis zum Reaktor mit borfreiem Wasser fülle, sei also vom schlimmstmöglichen Fall ausgegangen.
Das ist nicht zutreffend. Man hat eben nicht das gesamte Volumen vom Dampferzeuger bis zum Reaktordruckbehälter unterstellt. Eine solche Analyse habe ich jedenfalls nie zu Gesicht bekommen.
Aus Ihrer Sicht ist das Problem noch immer nicht geklärt?
Nein, ist es nicht. Zumal das Ergebnis der Untersuchung trotz der fehlerhaften Abschätzung schon in der Nähe des kritischen Bereichs liegt. Wie wird es dann erst bei ungünstigeren Nebenbedingungen sein? Das ist nicht geklärt! Das darf man im Atombereich nicht zulassen.
Sie haben selbst jahrelang in einem AKW gearbeitet, am Ende als Betriebsleiter. Wann ist Ihnen aufgefallen, dass es Störfallszenarien gibt, die keiner auf dem Schirm hatte?
(lacht) Das ist fast ein bisschen peinlich. Ich habe aus Lust am Schreiben einen Roman geschrieben. Und weil ein DEHL der komplizierteste der Kühlmittelverluststörfälle ist, habe ich den gewählt, um das Verhalten von Menschen in Störfallsituationen zu beschreiben.
Den unter bestimmten Umständen möglichen ganz großen Knall hatten Sie zunächst gar nicht auf dem Schirm?
Nein. Erst während des Schreibens habe ich erkannt, dass das tatsächlich richtig kritisch werden könnte. Dann gab es in Fukushima diese Explosionen – Knallgasexplosionen, wie es hieß. Eine war aber dabei, bei der amerikanische Wissenschaftler gezweifelt haben, ob das nicht in Wahrheit eine nukleare Explosion gewesen sein könnte, ausgelöst durch das Einspeisen von nicht-boriertem Wasser, in diesem Fall in ein Brennelemente-Lagerbecken. Da kam mir die Idee, dass das möglicherweise auch ein Problem bei einem DEHL sein könnte. Die Ernsthaftigkeit ist mir also eigentlich erst im Nachhinein zu Fukushima bewusst geworden.
Im Vorspann Ihres Buches schreiben Sie, es handele sich um eine fiktive Geschichte.
Die Menschen und ihre Geschichte schon. Das beschriebene Störfallszenario aber ist realistisch, sogar, wie ich es jetzt sehe, sehr, sehr nah an der möglichen Realität.
Betrifft das nur die Reaktoren in Deutschland?
Nein, das gilt international, für alle Druckwasserreaktoren. Haben sie nur drei statt vier Kühlstränge, ist es sogar nochmal gefährlicher.
Halten Sie eine Vorsorge für denkbar?
Es wäre in jedem Fall ein erheblicher Aufwand. Oder es könnte die Betriebsgenehmigung der AKW auf dem Spiel stehen.
Sie haben jahrelang Kerntechniker am Simulator geschult, Störfallhandbücher geschrieben, in internationalen Gremien mitgearbeitet. Wie erklären Sie sich, dass Sie als Praktiker und „Entdecker“ dieses Störfallszenarios nie mit einbezogen wurden in die Untersuchungen?
Ich vermute, dass man recht frühzeitig erkannt hat, was es bedeuten würde, wenn man tatsächlich Konsequenzen ziehen müsste – und dass man deswegen lieber in den bekannten Kreisen geblieben ist. Ich kann das nicht anders interpretieren. Meinen Glauben an die nuklearen Überwachungsorgane in Deutschland hat das jedenfalls erheblich
beeinträchtigt.
Was bedeutet die vorliegende Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission zu dem Thema?
Die ihr zugrundeliegende unselige und unsinnige Abschätzung schafft eine formale Rückzugsmöglichkeit für Betreiber und Behörden. Ich kann dem allerdings nicht zustimmen.
Dieser Text erschien im (Oktober 2018).