Nach Beginn der Katastrophe von Fukushima im März 2011 verloren acht deutsche Atomkraftwerke ihre Betrieberlaubnis und wurden für immer abgeschaltet. Betroffen ist auch der schwedische Energiekonzern Vattenfall mit seiner Beteiligung an den AKW Brunsbüttel und Krümmel. Beide Pannenmeiler galten als besonders störanfällig, ihr Ende war absehbar. Vattenfall klagt dennoch auf eine milliardenschwere Entschädigung gegen die Bundesrepublik.
„Deutschland kann selbstverständlich eine Neuausrichtung seiner Energiepolitik beschließen, aber ausländische Investoren sollen nicht den Preis für eine solche Entscheidung zahlen müssen und Geld verlieren, wenn die Entscheidung der Regierung willkürlich und ungerecht ist“, schreibt Vattenfall in einem FAQ zur Klage gegen den Atomausstieg.
Wegen dieser „Ungerechtigkeit“, die beiden Pannenmeiler endlich stilllegen zu müssen, strengt der schwedische Konzern vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes, ICSID), das zur Weltbank in Washington D. C. gehört, ein Schiedgerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland an. Das Tribunal ist seit Dezember 2012 konstituiert.
Im Allgemeinen gehören einem Schiedsgericht drei Schiedsrichter an. Jede Partei wählt einen Schiedsrichter sowie einen gemeinsamen Vorsitzenden. Vattenfall gewann mit dem Amerikaner Charles N. Brower einen der renommiertesten Experten in den Bereichen Völkerrecht und internationale Schiedsgerichtsbarkeit für sich. Deutschland nominierte den britischen Rechtsanwalt und Akademiker mit Spezialisierung auf dem Gebiet des internationalen Rechts, Alan Vaughan Lowe. Den Vorsitz hält Professor Albert Jan van den Berg aus den Niederlanden.
Vattenfall will Schutz vor „Enteignung und unfairer Behandlung“
Der Atomkonzern beruft sich auf den Energiecharta-Vertrag von 1994, der nach dem Ende des Kalten Kriegs ursprünglich die Integration der Energiesektoren von Ländern Osteuropas in die europäischen und globalen Märkte zur Aufgabe hatte. Die dort festgelegten Mechanismen sollen Unternehmen Sicherheit bieten, größere Auslands-Investitionen tätigen zu können, ohne dabei politische Risiken tragen zu müssen. Ausländische Investoren in der Energiebranche sollen „vor Enteignung und unfairer Behandlung“ geschützt werden.
- Dafür, dass in den Reaktoren Krümmel und Brunsbüttel vorher per Gesetz zugesicherte Reststrommengen nicht mehr produziert werden konnten, verlangt Vattenfall von Deutschland 4,4 Milliarden Euro plus Zinsen.
Die Bundesrepublik bemühte sich um Beilegung des Konflikts. Das Bundesverfassungsgericht sprach Vattenfall und dem ebenfalls betroffenen Konzern RWE im Dezember 2016 Kompensation für bereits getätigte Investitionen und für verfallene Strom-Produktionsrechte zu. Das Bundesumweltministerium verwarf eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten über 2022 hinaus, die die Karlsruher Richter neben Schadensersatzzahlungen als eine Möglichkeit zur Entschädigung der AKW-Betreiber eröffnet hatten.
Die Höhe der Entschädigung könne allerdings erst im Jahr 2023 ermittelt werden, wenn das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz sei und damit die tatsächlich nicht produzierte Strommenge und die damit entgangenen Gewinne konkret feststünden. Die Bundesregierung rechnet mit einem Betrag „im oberen dreistelligen Millionenbereich“. Während Atomkraftgegner*innen diese Zahlungen als viel zu hoch erachten und einen schnelleren Atomausstieg fordern, verlangt Vattenfall zusätzlich vor dem Schiedsgericht ein Mehrfaches davon.
„Wenn das Unternehmen geschädigt wird und einen Anspruch auf Entschädigung hat, muss es einen derartigen Anspruch auch verfolgen“, argumentiert der Konzern. Das habe „nichts mit der Haltung“ zur Atomenergie oder zum Ausstieg aus der Atomenergie zu tun. Vattenfall orientiert sich also unverholen und ausschließlich an den eigenen Bilanzen.
EU-Kommission interveniert
Im September 2015 wurde bekannt, dass die EU-Kommission einen amicus curiae-Schriftsatz zur europarechtlichen Zulässigkeit der Schiedsklage einreichen wird.
In der Zeit vom 10. bis 21. Oktober 2016 fanden die ersten mündlichen Verhandlung in Washington unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dabei vereinbarten beide Konfliktparteien, bestimmte Informationen künftig zu veröffentlichen. Viele Details, die das Konzerninteresse betreffen, bleiben allerdings geheim.
Im März diesen Jahres beanstandete der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in seinem „Achmea“-Urteil dann sogar bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen EU-Staaten generell. Schiedsgerichte könnten das EU-Recht anders auslegen als der EuGH, hieß es in der Begründung. Die Bundesrepublik schloß sich der Kritik an: Wenn Vattenfall das Verfahren fortführe, verletze es EU-Recht. Vattenfall hingegen hält das Schiedsgericht weiter für zuständig, weil das Achmea-Urteil „nicht auf den Energiecharta-Vertrag passe“.
Etappensieg für Vattenfall
Das internationale Schiedsgericht erklärte sich Anfang September nun für zuständig. „Vattenfall kann auf Entschädigung für Atomausstieg hoffen“, titelten daraufhin Medien, das könne „teuer werden für Deutschland“. Während das Bundeswirtschaftsministerium die Entscheidung „prüfen“ will, sieht Vattenfall sich in seiner Haltung bestätigt.
In der Sache ist aber noch nicht entschieden und der Ausgang völlig offen. Das Schiedsgericht verkündet seinen schriftlichen Schiedsspruch innerhalb von 120 bis 180 Tagen, nachdem die Parteien ihre Standpunkte vorgetragen haben und das Verfahren durch das Schiedsgericht geschlossen wurde. Der Schiedsspruch wird durch Mehrheitsentscheidung des Schiedsgerichts getroffen.
Mit einem Urteil ist noch in diesem Jahr zu rechnen, schätzen Prozessbeobachter*innen. Der Schiedsspruch wäre dann - wie ein rechtskräftiges Urteil eines nationalen deutschen Gerichts - bindend für beide Parteien. Wenn allerdings Teile des Schiedsspruch „zweideutig oder strittig“ sind, können die Parteien das Schiedsgericht erneut ersuchen. Im schlechtesten Fall könnte Vattenfall also doppelt vom deutschen Steuerzahler kassieren.
Ein anderer Blickwinkel ist nötig
Soweit die Rechtsauslegungen. Die Moral allerdings bleibt auf der Strecke. Mit der endgültigen Abschaltung der AKW Krümmel und Brunsbüttel nahm ein sehr unrühmliches Kapitel der deutsch/ schwedischen Risikotechnik sein glücklicherweise vorzeitiges Ende. Neben dem starken politischen Druck aus der Bevölkerung waren jahrelange Stillstände für umfangreiche Reparaturen oder Nachrüstungen, massive Bedenken zur Störfallbeherrschung, konstruktionsbedingte Schwachstellen und „kurz vor dem GAU“-Situationen überzeugende Argumente für den Entzug der Betriebserlaubnis.
Das Bild der schwarzen Rauchwolke des explodierten Transformators über Krümmel (Juni 2007) im Kopf und die Erinnerung an das haarsträubende Krisenmanagement und die miserable Öffentlichkeitsarbeit im Nachgang zu den Störfällen, die parallel auch Brunsbüttel betrafen, lassen es nicht zu, Vattenfalls Argumenten von „unfairer Behandlung“ zu folgen. Der Konzern schielt allein auf seine Erträge und Bilanzen. Die Interessen der Menschen (i.S.v. Bevölkerung, nicht Vattenfall-Manager*innen) werden hinten angestellt. Das macht sich übrigens auch im Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Schweden bemerkbar.
In diesem Sinne bekommt der Werbeslogan der neuen Vattenfall-Greenwashing-Kampagne „Wir wollen ein fossilfreies Leben innerhalb einer Generation ermöglichen“ ganz neue Bedeutung. Zielt er wohl eher auf Lebewesen ab als auf die „fossilen“ Brennstoffe. Was am Ende daher bleibt ist die Empfehlung: Wer noch Strom- oder Wärmekunde bei Vattenfall ist, sollte das schleunigst ändern.
weiterlesen:
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Atomgesetz-Novelle: Vattenfall könnte doppelt kassieren
11. Juni 2018 - Bundestag muss Gesetzentwurf entsprechend verschärfen / Handlungsbedarf auch bei netzverstopfenden AKW in Norddeutschland. -
Vom Recht, abzuschalten
16.03.2016 - Vor dem Bundesverfassungsgericht betont die Bundesregierung das ureigene Recht des Gesetzgebers, das Atom-Risiko zu bewerten und AKW gegebenenfalls stillzulegen.
Quellen (Auszug): corporate.vattenfall.de, handelsblatt.com, taz.de, wikipedia.org, mdr.de; Sept. 2018