Präsidentin Tsai treibt offiziell den Atom-Ausstieg des Inselstaats voran – doch sie spielt dabei nicht ganz ehrlich
Im Jahr 2014 rückten noch Wasserwerfer an, um die Anti-Atom-Demonstrant*innen zurückzudrängen: Zehntausende gingen in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh auf die Straße, um gegen den Ausbau der Atomkraft zu protestieren. Der Super-GAU von Fukushima war noch frisch im Bewusstsein, während die Arbeiten am vierten AKW-Komplex des Landes zügig vorangingen. Inzwischen hat die Bewegung erheblich an Schwung verloren – doch das hat vor allem damit zu tun, dass die derzeitige Präsidentin tatsächlich den Ausstieg vorantreibt. Tsai Ing-wen befindet sich jedoch in einer Zwickmühle: Die Insel Taiwan ist von Stromausfällen geplagt – die endgültige Still-legung der vorhandenen sechs Meiler belastet die Versorgungssicherheit. Und so unpopulär hier die Atomkraft ist: In Umfragen bevorzugen die Bürger*innen niedrige Strompreise.
Präsidentin Tsai hat vor drei Jahren im Wahlkampf ein „atomfreies Heimatland Taiwan bis 2025“ versprochen. In der atomkritischen Stimmung nach der Fukushima-Katastrophe in Japan kam das gut an. Die umweltpolitischen Versprechen gaben ihrer Popularität einen Schub: Tsai gewann die Wahl.
Objektiv gesehen hält Tsai ihre Versprechen durchaus ein. Aus dem AKW-Neubau Lungmen entfernen Arbeiter in diesen Tagen den Brennstoff. „Der Abschied von diesem Problemprojekt fällt uns sehr leicht angesichts der vielen Verstöße gegen Vorgaben und Auflagen schon in der Bauphase“, kommentiert die Bürgergruppe Green Citizens Action Alliance. Im September gehen die Brennstäbe zum Hersteller zurück. Die gerade fertiggestellte Anlage wird nie ans Netz gehen.
Stillgelegt und doch nicht tot
Trotzdem sind viele Atomkraftgegner*innen enttäuscht: Denn Tsai lässt auf der anderen Seite regelmäßig bereits stillgelegte Reaktoren der verbliebenen drei AKW wieder ans Netz, um akute Lücken in der Stromversorgung zu schließen. Im vergangenen Sommer war die halbe Insel für mehrere Stunden ohne Strom. Fabriken standen still, es entstand Schaden in Millionenhöhe. Die Leute saßen bei 37 Grad ohne Klimaanlagen in Büros und Wohnungen. Der Zorn auf die Regierung war riesig.
Um in diesem Sommer erneute Blackouts zu vermeiden, ließ die Regierung im März das AKW Kuo-sheng wieder anfahren. Das jedoch wurde zum PR-Desaster: Am 4. Juli kam es in der Anlage zu einem Störfall. Der Strahlungsalarm schlug an, nachdem ein Ventil im Kühlkreislauf ein Leck hatte. Erst drei Tage später ging der Reaktor wieder ans Netz.
Kurz zuvor hatte ein Erdbeben mit Magnitude 7,7 nur 120 Kilometer von dem Kraftwerk entfernt zahlreiche Gebäude einstürzen lassen, 17 Menschen starben. 2013 und 2015 hatte die Erde dort ebenfalls heftig gebebt. Und: Das AKW Kuosheng ist von ähnlicher Bauart wie die Meiler in Fukushima. Es liegt zudem in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Taipeh mit 8,5 Millionen Einwohner*innen in der Region.
Die Bevölkerung ist spätestens seit 2011 nervös wegen der AKW, weil in Taiwan die gleichen Bedingungen herrschen wie im nördlich gelegenen Japan. Die Insel liegt an der Kante einer tektonischen Platte – es gibt alle paar Tage ein kleines und alle paar Monate ein stärkeres Erdbeben. Zugleich ist Taiwan nur etwas größer als Nordrhein-Westfalen. Während Japan die ohnehin dünn besiedelte Region um Fukushima einfach abriegeln konnte, wäre ein Super-GAU in Taiwan eine umso größere Katastrophe.
Schon in den 1990er-Jahren gab es zahlreiche Proteste, die in den Jahren nach Fukushima wieder aufflackerten. Damals fiel auch die Entscheidung, das AKW Lungmen vorerst nicht anzufahren. Der staatliche Energieversorger und AKW-Betreiber Taipower, der 20 Jahre an der Anlage gebaut und sie mit Gerichtsverfahren und Lobby-Kampagnen durchgesetzt hatte, fürchtete daher nichts so sehr wie einen Wahlsieg Tsais. Das Unternehmen hat nun siebeneinhalb Milliarden Euro in ein neues Kraftwerk investiert, das nie Strom herstellen wird.
„Fake Green“
Die Anti-Atom-Bewegung sah Tsais Wahlsieg als Erfolg und erklärte den Kampf damit für abgeschlossen. Zur Fukushima-Demo 2018 kamen nur 2.000 Menschen. Laut Plan sollen die nächsten Reaktoren schon Ende diesen Jahres, der letzte Meiler dann 2025 vom Netz gehen. Das AKW Maanshan‑2 würde so volle 20 Jahre vor Ablauf seiner geplanten Lebensdauer eingemottet.
Doch Kritiker*innen bezweifeln, dass es wirklich so kommt. Die Verfassung erlaubt der Präsidentin nur zwei Amtszeiten, Tsai kann also auch im Falle einer Wiederwahl maximal bis 2024 regieren. Die endgültige Stilllegung ist sicher nicht mehr ihr Problem. Die Unterstellung lautet, dass sie ihre Basis durch eine knappe Lizenzvergabe für die AKW ruhigstellt, ohne ein alternatives Energiekonzept voranzutreiben. Tatsächlich ist abzusehen, dass die Erneuerbaren bis 2025 die entstehende Lücke nicht füllen. „Fake Green“, nennt die Green Citizens Action Alliance Tsais Politik.
Dieser Text erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin 40, Juli 2018