Die AKW sollen sofort vom Netz, die Kohleschlote schnellstmöglichst aufhören zu qualmen. Geht das auch parallel? Und woher kommt künftig der Strom, wenn Wind und Sonne einmal keinen liefern?
Es ist, in gewissem Maß, der Lackmustest der Energiewende. Ein paar AKW abschalten, Erneuerbare ausbauen – im Rückblick wird das der Anfang gewesen sein. Ein viel zu langsamer, denn von einst 19 Reaktoren sind sieben immer noch am Netz. Der nächste Schritt jedoch kann nicht mehr länger warten: Der Ausstieg aus der Kohleverstromung. Der Punkt sorgte für Zoff in den Jamaika-Koalitionsverhandlungen. Die große Koalition hat ihn erst einmal in eine Kommission abgeschoben. Die Schlote qualmen derweil munter weiter. Dabei steht außer Zweifel, dass Braun- und Steinkohlekraftwerke ihre Produktion zügig zurückfahren und in absehbarer Zeit komplett einstellen müssen, wenn der Klimawandel irgendwie beherrschbar bleiben soll. Jetzt rächt sich das bisherige Schneckentempo beim Abschalten der AKW. Denn die sieben Reaktoren, die noch laufen, drohen nun auch noch den Klimaschutz zu torpedieren. „Wir können nicht gleichzeitig aus der Atomenergie und der Kohle aussteigen“, lautet das Mantra, das die Kohlelobby nicht müde wird zu wiederholen. Auch Ex-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat es einst verbreitet.
Kohle- und Atomkraftwerke stilllegen
„Deutschland kann kurzfristig die 20 ältesten Braunkohlekraftwerke stilllegen. Die Versorgungssicherheit ist dadurch nicht gefährdet“, hält der Berliner Thinktank Agora Energiewende dem entgegen. „Kurzfristig“ meint dabei: parallel zum Abschalten der letzten sieben AKW. Um das nachzuweisen, hat Agora die vorhandenen wetterunabhängigen Kraftwerkskapazitäten zusammengezählt und dem errechneten maximalen Strombedarf plus einer Sicherheitsmarge gegenübergestellt. Mit dieser sogenannten Leistungsbilanz weisen die Übertragungsnetzbetreiber bisher alljährlich die Versorgungssicherheit nach; Agora hat sie über 2019 hinaus fortgeschrieben. Unter Berücksichtigung von derzeit eingemotteten (Gas‑)Kraftwerken ist demnach weder 2020 noch 2023 – also nach dem spätesten Abschaltdatum der letzten AKW in Deutschland – ein Versorgungsproblem zu erwarten. Der Berechnung zugrunde liegt ein theoretisches „worst case“-Szenario mit maximalem Stromverbrauch, ohne Sonne und Wind und ohne den längst üblichen europaweiten Stromaustausch.
Zwei weitere Studien, von Öko-Institut und Prognos AG im Auftrag des WWF sowie von Energy Brainpool im Auftrag von Greenpeace, halten sogar ein noch schnelleres Zurückfahren der Kohleverstromung für möglich. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass bis 2023 zusätzlich zu den heute noch laufenden Atomkraftwerken mit einer Gesamtleistung von rund 10 Gigawatt auch noch Kohlemeiler mit einer Gesamtkapazität von rund 17 Gigawatt vom Netz gehen könnten, ohne dass die Versorgungssicherheit in Gefahr geriete. Ähnliches lässt sich aus einem zu den Jamaika-Sondierungsgesprächen erstellten internen Papier von Expert*innen aus Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) und Bundesnetzagentur (BNetzA) herauslesen. Die Union bot in diesen Gesprächen am Ende die Abschaltung von 7 Gigawatt an.
Was die Versorgungssicherheit angeht, sind vor allem zwei Fragen entscheidend. Zum einen geht es darum, ob die erneuerbaren Energien zusammen mit den verbleibenden konventionellen Kraftwerken überhaupt ausreichend Strom erzeugen können, um den Bedarf zu decken. Die Greenpeace-Studie sieht darin selbst bei einem merklichen Ansteigen des Stromverbrauchs durch Elektromobilität kein Problem – vorausgesetzt, die erneuerbaren Energien werden zügig weiter ausgebaut.
Versorgungssicherheit europäisch denken
Kniffliger ist, ob die benötigte Leistung auch zu jedem Zeitpunkt und wetterunabhängig sicher zur Verfügung steht. Bisher war diese Frage auf dem Papier mit einer einfachen Rechnung zu beantworten, der oben erwähnten Leistungsbilanz. Fallen aber zusätzlich zu den AKW noch immer mehr Kohlekraftwerke weg, geht diese Rechnung irgendwann nicht mehr auf. Die Versorgungssicherheit selbst, sagt Energieexpertin Sarah Rieseberg von Arepo Consult, sei damit allerdings noch lange nicht gefährdet. Sie müsse bloß realistischer betrachtet werden – und das heißt: europäisch statt national. Expert*innen aus BMWi und BNetzA drückten es in oben erwähntem Papier noch drastischer aus: Eine rein nationale Betrachtungsweise sei „wissenschaftlich überholt und praktisch ohne Aussagekraft“. Denn das deutsche Stromnetz ist keine Insel, sondern seit Jahrzehnten Teil des europäischen Stromverbunds. Weil Stromüberschüsse in einem Land Stromdefizite anderswo ausgleichen können, macht der Stromverbund die Versorgung in allen beteiligten Ländern sicherer, einfacher und letztlich auch günstiger.
Unbestritten ist, dass ein Energieversorgungssystem, das zu weiten Teilen auf Sonne und Wind baut, auch Kraftwerkskapazitäten vorhalten muss, die einspringen können, wenn die fluktuierenden Erneuerbaren nicht genügend Energie liefern. Doch in einem europäischen Verbundnetz macht es Rieseberg zufolge keinen Sinn mehr, dass jedes Land seine eigenen kostspieligen Reservekapazitäten vorhält. Nötig sei vielmehr eine europäische Lösung: über Europa verteilte flexibel ansteuerbare Kraftwerke, die kurzfristig einspringen können, wenn das Stromangebot in einer Region trotz Import einmal nicht ausreichen sollte. (Ebenso könnten Großverbraucher ihren Strombezug kurzfristig drosseln.) Je größer der Anteil der erneuerbaren Energien europaweit wird, desto wichtiger werden solche Reservekapazitäten. Schon aus technischen Gründen werden allerdings nicht Atomkraftwerke, sondern eher hochflexible (Pump‑)Speicher oder Gaskraftwerke diese Aufgabe übernehmen. Insgesamt sind bei einer europäischen Lösung deutlich weniger Reservekapazitäten nötig, als wenn jedes Land seinen eigenen teuren Reservekraftwerkspark vorhält.
Schnelles Abschalten hilft der Energiewende
Das zügige Abschalten von Atom- und Kohlekraftwerken würde nicht nur das CO2-Budget Deutschlands spürbar entlasten. Nach Angaben der Expert*innen aus BMWi und BNetzA würde es die Versorgungssicherheit sogar erhöhen (!), weil die Kohlekraftwerke (und auch die AKW) in kritischen Situationen die Netze besonders belasten. Und es hätte eine heilsame Wirkung auf den Strommarkt. Der leidet seit Jahren – obwohl etliche AKW bereits vom Netz sind – unter immensen Überkapazitäten. Die Börsenstrompreise sind ruinös niedrig, der Stromexportüberschuss Deutschlands wächst Jahr für Jahr. 2017 stieg er auf den neuen Allzeitrekord von 54 Milliarden Kilowattstunden; das entspricht fast der kompletten Stromproduktion von sechs großen, rund um die Uhr laufenden AKW.
Zugleich stehen wegen der niedrigen Preise etliche Gaskraftwerke seit vielen Jahren still; zahlreiche Gas-Neubauprojekte liegen zudem auf Eis. Das wiederum ist gleich vierfach fatal. Erstens könnten diese Kraftwerke den noch benötigten Strom viel klimafreundlicher erzeugen als Kohlekraftwerke. Zweitens sind Gaskraftwerke flexibler regelbar und könnten ihre Produktion so besser dem fluktuierenden Angebot erneuerbarer Energien anpassen. Aufgrund ihrer – drittens – höheren Brennstoffkosten hätten sie auch ökonomisch größere Anreize, nur dann Strom zu produzieren, wenn kein anderer im Angebot ist. Viertens schließlich lassen sich Gaskraftwerke perspektivisch auch mit aus überschüssigem Ökostrom erzeugtem regenerativen Gas („Windgas“, eE-Gas) betreiben, haben also auch in einem komplett auf erneuerbaren Energien fußenden Stromsystem noch einen wichtigen Platz.
Stilllegung und Neubau
Dass Kohlekraftwerke vom Netz gehen sollen, während zugleich der Ruf nach neuen Gaskraftwerken ertönt, ist dabei kein Widerspruch. Insbesondere Braunkohlekraftwerke laufen wegen der niedrigen Brennstoffkosten mehr oder weniger durch; das führt zu einem Überangebot an zudem sehr klimaschädlichem Strom. Gaskraftwerke hingegen drosseln aufgrund des vergleichsweise teuren Brennstoffs ihre Produktion, wenn viel Wind- und Sonnenstrom die Börsenpreise drückt. Und für den Klimaschutz ist nicht entscheidend, wie viele fossile Kraftwerke bereitstehen, sondern vor allem, wie viele Stunden sie jedes Jahr laufen. Überspitzt bedeutet das, dass selbst ein Kohlekraftwerk, das für extreme Wettersituationen noch bereitsteht, dem Klimaschutz kein Bein stellt – solange es tatsächlich nur dann läuft, wenn kein anderer Strom zur Verfügung steht. Das bedeutet andersherum: Die allermeiste Zeit des Jahres könnten eigentlich noch viel mehr Kraftwerke abschalten.
Energiepolitisch ist entscheidend, zunächst ausreichend Kraftwerkskapazitäten abzubauen, bevor neue Ersatzkapazitäten an den Start gehen. Nach dem in der Greenpeace-Studie angewandten Kohleausstiegmodell gehen auch nach 2023 jedes Jahr Kohlekraftwerke mit einer Leistung von 3 bis 5 Gigawatt vom Netz. Ersatzkapazitäten, also „ein Zubau an flexibler Leistung“, seien erst „im Laufe der nächsten Dekade“ erforderlich, sagt Fabian Huneke von Energy Brainpool, Mitautor der Greenpeace-Studie. Dafür brauche es aber Planungssicherheit.
Strittig ist, wie viele Ersatzkraftwerke tatsächlich nötig sind und wie sie am besten finanziert werden. Energieexperte Christian Matthes vom Öko-Institut forderte schon vor Jahren, Reservekapazitäten auf einem sogenannten Kapazitätsmarkt auszuschreiben; eine Lösung, die auch Rieseberg für richtig hält: Kraftwerksbetreiber würden dann Geld schon alleine dafür bekommen, dass sie jederzeit einsetzbare Kraftwerkskapazitäten vorhielten. Huneke hingegen hält ein solches Modell zumindest in der derzeitigen Situation für eher ungeeignet. Es sei „volkswirtschaftlich ineffizienter“ und berge die Gefahr, dass zu viele Kapazitäten vorgehalten würden und auch unwirtschaftliche Kohlekraftwerke davon profitierten. Er setzt stattdessen auf stärker schwankende Börsenstrompreise. In Stunden mit hoher Stromnachfrage und geringem Angebot erneuerbarer Energien würden diese künftig, wenn die Überkapazitäten einmal abgebaut seien, so in die Höhe gehen, dass sich die Kraftwerke, die in diesen Situationen dann gebraucht würden, alleine darüber finanzieren könnten. Die Stromverbraucher*innen komme das am Ende günstiger als ein Kapazitätsmarkt.
Armin Simon