„Es gibt keine ungefährliche Strahlung“

06.02.2018 | Jan Becker

Der Schweizer Onkologe Dr. med. Claudio Knüsli konnte nachweisen, dass auch sehr geringe Strahlungswerte gesundheitliche Folgen haben. Der IPPNW fordert eine Neubewertung des Risikos zum Beispiel durch AKW-Bauschutt.

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Broschüre: AKW machen Kinder krank (pdf)

Die internationalen Strahlenschutz-Normen geben vor, dass die allgemeine Bevölkerung pro Jahr nicht mehr als 1 Milli-Sievert (mSv) Emissionen aus künstlichen Quellen, wie zum Beispiel von Atomkraftwerken, erhalten darf. Die Grenzwerte für Personen, die beruflich strahlenexponiert sind, wie z. B. Röntgen- oder AKW-Personal sind höher angesetzt. Sie liegen bei 20 mSv pro Jahr in nicht mehr als fünf aufeinander folgenden Jahren. Darüber hinaus findet eine Unterteilung in niedrige (kleiner 100 mSv), beziehungsweise hohe Strahlendosen statt.

Laut Claudio Knüsli, bis 2011 Präsident des Schweizer Zweigs der IPPNW, ist diese Klassifizierung „willkürlich angesetzt“. Die biologischen Wirkungen im lebenden Organismus seien „fließend“, auch niedrige Strahlendosen können lebensbedrohliche Krankheiten auslösen. Die Strahlung verändert durch Ionisation die Erbsubstanz in lebenden Zellen, was später im Leben beispielsweise zu soliden Krebsformen (z.B. Speiseröhrenkrebs, Brustkrebs oder Blutkrebs also Leukämie) führen kann. Problematisch ist dabei der Nachweis eines Zusammenhangs mit Strahlenexposition. Strahlendosen um 100 mSv und darunter führen zu stochastischen, oder zufallsbedingten Schäden. Das heißt, nicht jeder Betroffene wird geschädigt. Je höher jedoch die Dosis ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass nach einem Zeitintervall von mehreren Jahren bis Jahrzehnten eine Krankheit auftritt.

„Heute muss man davon ausgehen, dass auch kleinste Strahlendosisraten von um 1mSv pro Jahr für die Gesundheit ein Risiko darstellen“, resümiert Knüsli in seiner Untersuchung. Das bedeutet, dass es keine ungefährliche Dosis für ionisierender Strahlung gibt.

Der Mediziner hat unterschiedliche internationale Studien ausgewertet. Erst im vergangenen Jahrzehnt wurde der ionisierenden Niedrigstrahlung die notwendige Beachtung geschenkt, international wurden mindestens 12 große Studien zu den Auswirkungen verfasst. Alle kommen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass ein Dosis-Wirkungsverhältnis besteht. Das heißt, bei niedriger Strahlenexposition sind seltener und bei höherer Exposition häufiger medizinische Effekte zu beobachten.

Eine dieser Studien untersuchte 300.000 Angestellte von Atomkraftwerken in den USA, Großbritannien und Frankreich. Sie offenbarte, dass auch Nichtkrebserkrankungen, wie zum Beispiel Hirnschlag, bei niedrigen Strahlendosen gehäuft vorkommen.

Ärzte fordern neue Grenzwerte

Anfang Februar fand in Stuttgart ein Symposium der Landesärztekammer statt, das sich mit gesundheitlichen Risiken gering radioaktiver Strahlenbelastung im Zusammenhang mit Rückbaukonzepten für die Atomkraftwerke befasste. Übereinstimmend konnte auch dort festgehalten werden, „dass für die schädliche Wirkung ionisierender Strahlung auf die Gesundheit auch im Bereich kleiner Dosen keine Schwellenwerte bestehen“.

Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann vom Institut für Community Medicine an der Universität Greifswald bekräftigte die Untersuchungsergebnisse des Schweizer Knüsli. Deshalb sei eine Neubewertung des Strahlenrisikos erforderlich, „wobei als ärztliche Aufgabe nicht nur das statistische Durchschnittsrisiko, sondern auch das Schicksal besonders empfindlicher Gruppen in der Bevölkerung zu berücksichtigen ist“, so Hoffmann.

Der IPPNW fordert eine Revision der bisher geltenden, aber nach aktuellen Erkenntnissen veralteten Grenzwerten der Internationalen Strahlenschutzkommission. Beim zukünftigen AKW-Rückbau tritt der Zusammenschluss kritischer Ärzt*innen dafür ein, dass keine radioaktiven Materialien freigemessen und dann rezykliert (als Baumaterialien wiederverwendet) werden dürfen.

„Das Minimierungsgebot des Strahlenschutzes darf beim AKW-Abriss nicht außer Kraft gesetzt bleiben“, fordert Franz Wagner, der sich beim IPPNW und der Initiative „AG AtomErbe Neckarwestheim“ engagiert. Die schon begonnene Freisetzung von gering radioaktivem Material aus den AKWs in die Umwelt, auf Siedlungsmüll-Deponien und in die allgemeine Wiederverwendung verstosse gegen das Vorsorgeprinzip.

Demonstration am 11. März: Atomausstieg sofort!

Das Risiko der Niedrigstrahlung und die Forderung nach einem Verbot des „Freimessens“ wollen die Aktist*innen auf der geplanten Demonstration am 11. März in Neckarwestheim thematisieren. Auch .ausgestrahlt ruft zu der Aktion anlässlich des Fukushima-Jahrestages unter dem Motto „Endlich abschalten“ auf.

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    02.02.2018 - Vor einem Jahr wurden bei Patient*innen in Deutschland und der Schweiz außergewöhnlich hohe Mengen Uran im Urin nachgewiesen, Herkunft und Ursache sind unklar. Mediziner*innen vermuten eine radioaktive Freisetzung.

  • Studie: Leukämie-Risiko für MitarbeiterInnen der Atombranche nachweislich erhöht
    26.06.2015 - Eine neue Studie belegt den Zusammenhang zwischen Leukämieerkrankung und dem Arbeiten in einem Atomkraftwerk: Das Risiko steigt linear mit der Strahlendosis an. Schon kleine Dosen von Radioaktivität können Blutkrebs auslösen.

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Quellen (Auszug): mensch-und-atom.org, ippnw.de, atomerbe-neckarwestheim.de, endlich-abschalten.de; 2./5.2.2018

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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