"Helfen zu differenzieren"

01.02.2018 | Armin Simon

Interview | Atommüll-Experte Wolfgang Neumann über kritische Wissenschaft, über Misserfolge, die sich ins Gegenteil verkehren, über Nachwuchsprobleme und über den Grat zwischen Opposition und Verbesserung 

Wolfgang Neumann, in 16 Zwischenlagern stehen Castoren mit abgebrannten Brennelementen herum. Für drei Viertel davon warst Du der Ideengeber. Hast Du dafür eigentlich Ärger bekommen in der Bewegung? 
Überraschend wenig. Im Vergleich zu dem, was ich heute für meine Forderung bekomme, an Zwischenlagerstandorten heiße Zellen zu bauen, war das ein Sturm im Wasserglas. 

Die Anti-Atom-Bewegung hat jahrzehntelang vertreten, sich um Atommüll erst zu kümmern, wenn die AKW stillgelegt sind. 
Diese Position fand ich politisch immer nachvollziehbar. 

Aber Dein Zwischenlager-Vorschlag hat das Atommüllproblem der Betreiber gelöst. 
Wenn man sich als Wissenschaftler damit beschäftigt, warum der Müll gefährlich ist, dann kommt man automatisch zu der Frage, was man denn besser machen könnte. Praktisch entscheidend war, dass Grüne und SPD irgendwann auf kommunaler und auf Landesebene Koalitionen gebildet haben, durch die auch ich in andere Situationen gekommen bin. Anfang der 1990er etwa hat die niedersächsische SPD-Umweltministerin Monika Griefahn einen Beirat für Fragen zum Ausstieg aus der Kernenergie gebildet. Da ging es unter anderem darum, was man tun kann, wenn Rot-Grün einmal die Bundesregierung stellt. 

Was hat das mit den Zwischenlagern zu tun?
Für die SPD war das Wichtigste, die Wiederaufarbeitung zu beenden. Denn die WAA war der Weg zum Plutonium, also zu Atomwaffen. Aber es war klar: Wenn eine Regierung die Wiederaufarbeitung beenden will, dann muss etwas anderes her. 

Viele hätten gesagt: nicht unser Problem! 
Ich habe mir gesagt: Wiederaufarbeitung willst du nicht, Gorleben hältst du nicht für den richtigen Weg, und wenn die dann an die Regierung kommen, müssen sie ja in der Lage sein, irgendwas zu tun. Also habe ich überlegt, was man denn anders machen könnte. 

So kamen die dezentralen Zwischenlager raus. 
Genau. In den letzten Zügen der Konzeptentwicklung bin ich dann an eigentlich öffentlich nicht zugängliche Unterlagen aus dem AKW Grohnde gekommen. Und siehe da, der Anlagenchef dort hatte sich überlegt: Die Probleme mit den Transporten, die möchte ich nicht lange durchhalten – könnten wir die Brennelemente nicht bei uns behalten? Ähnliche Ideen gab es auch im AKW Lingen. De facto lief das parallel, ohne dass die Politik das zur Kenntnis genommen hätte. Mein Papier landete dann ja auch erstmal in der Schublade. Erst Jürgen Trittin von den Grünen hat es 1998 gewissermaßen wieder rausgezogen, als er Minister war. 

Das Papier war aber nicht unter der Voraussetzung eines Ausstiegs geschrieben? 
Doch, doch. Das war die Randbedingung, die ich auch reingeschrieben hatte. 

Einige Deiner Vorschläge sind im Zuge des rot-grünen „Atomkonsens“ Realität geworden. Trotzdem hast Du die Grünen für diesen sehr kritisiert. 
… dafür, dass nicht alle AKW gleich abgeschaltet werden sollten oder zumindest schneller, als sie es vereinbart haben! 

Du bezeichnest dich selbst als „kritischen Wissenschaftler". Was bedeutet das? 
Erstens, nicht nur kritisch gegenüber der eigenen Wissenschaft und ihren Ergebnissen zu sein, sondern auch dahingehend, wie und unter welchen Randbedingungen diese Ergebnisse zustande kommen. Wir haben in der „Gruppe Ökologie“ von Anfang an interdisziplinär gearbeitet – das hilft enorm, die betroffene Bevölkerung mitzunehmen und zu gucken, wo deren Bedürfnisse liegen. Es geht darum, das Gesamtbild im Blick zu haben, „ökologisch“ im ursprünglichen Sinne. Das macht inzwischen so gut wie niemand mehr, jedenfalls nicht im Bereich Atomenergie. Zweitens geht es darum, dass das, was man als Fachwissenschaftler tut, auch in die Gesellschaft eingebunden ist. Ich erlebe heute häufig, dass Leute ihr Ding machen, und ob das für die Gesellschaft gut oder schlecht ist, überlegen sie sich wenn überhaupt dann hinterher. Drittens ging es mir immer auch darum, den Bürgerinitiativen, Gruppen und Kommunen sachliche Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sie sich nicht nur politisch, sondern auch fachlich auf möglichst hohem Niveau etwa gegen eine Atomanlage wehren können. Und damit sie das, was an Fachchinesisch von der anderen Seite kommt, verstehen können. 

Empowerment zum Abwehrkampf also.
Wobei mir wichtig ist, die kritische Wissenschaft nicht darauf zu reduzieren, gegen etwas zu sein, und fachwissenschaftlich zu dramatisieren oder politisch zu skandalisieren. Sondern zu versuchen, die Sachen realistisch darzustellen. Ich will zumindest den Leute, die es wollen, helfen zu differenzieren. 

Das klingt, als ob nicht alle das wollten. 
Bestes Beispiel ist die Freigabe gering radioaktiver Materialien, die etwa beim Abriss von AKW anfallen. Ich habe viel versucht dafür zu tun, dass die abgeschafft wird oder dass anders mit dem Material umgegangen wird: Man sollte die Hintergrundstrahlung und damit das Krebsrisiko nicht noch zusätzlich erhöhen. Aber es ist kein Katastrophenthema für mich – anders als für einige in den Bürgerinitiativen. 

Und darüber hinaus? 
Darüber hinaus muss es meiner Meinung nach auch Aufgabe eines kritischen Wissenschaftlers sein, aktiv eigene sicherheitstechnische Konzepte oder Verbesserungen dagegenzusetzen. Deshalb hatte ich auch keine Probleme, in die Reaktorsicherheitskommission, die Strahlenschutzkommissison  und die Entsorgungskommission zu gehen. Ich dachte: Mit deinen Argumenten kannst du da die Leute wenigstens zum Nachdenken bringen – wobei ich schon die Hoffnung hatte, mit mehreren anderen kritischen Wissenschaftler*innen gemeinsam darin auch was ändern zu können. 

Hat diese Hoffnung sich erfüllt?
Anfangs schon, fand ich. Da haben etwa die RSK-Stellungnahmen einen deutlich höheren Sicherheitsanspruch formuliert als zuvor. Ab 2009 etwa ging’s dann aus meiner Sicht aber wieder bergab. Da sind dann immer mehr Vertreter von betreibernahen Organisationen in die RSK reingekommen. 

Das Gegenargument gegen solche Gremienarbeit lautet, dass man auf diese Weise strukturell eingebunden und so auch moralisch oder argumentativ geschwächt wird.
Das ist sicher so: In der Zeit bin ich öffentlich sehr viel weniger offensiv aufgetreten. Und natürlich mussten viele Kompromisse für die Stellungnahmen gemacht werden. Da kannst du dann nicht am nächsten Morgen zu „Panorama“ gehen und sagen: alles ganz großer Mist. Aber unterm Strich würde ich sagen, dass ich ohne krummen Rücken wieder rausgekommen bin. 

Es gibt inzwischen einige, die spotten, es wäre höchste Zeit, mal ein Öko-Institut zu gründen – weil diese einstmals kritische Institution, die wie Du die Bürgerinitiativen unterstützt hat, heute de facto nur noch als Vertreter der grünen Umweltminister arbeitet …
Das sehe ich auch als Problem. Früher kritische Büros sind durch die öffentlichen Aufträge absorbiert. Da ist kaum noch offensives kritisches Auftreten möglich. 

Und Du machst Deinen Laden auch noch zu! 
Irgendwann muss mal Schluss sein. Auch kritische Wissenschaftler haben das Recht auf Rente. Und es steht niemand auf der Matte, der den Laden in unserem Sinne fortführen könnte – leider. 

Hat die Bewegung versäumt, sich Nachwuchswissenschaftler*innen heranzuziehen? 
Schon. Immerhin gibt es jetzt die vom „Atommüllreport“ organisierte „Sommerakademie“, die Interessierte von verschiedenen Unis an das Thema heranführt. Aber wir selbst haben es ja auch nicht geschafft, die jungen Leute bei uns zu halten. Ich kann nur hoffen, dass möglichst bald jemand auf die Idee kommt, da was Neues zu gründen. 

Manche halten das Atomthema mehr oder weniger für durch. Siehst Du trotzdem noch Bedarf an wissenschaftlicher Expertise? 
Ja. Der Atommüll ist da und es muss ein möglichst sicherer Umgang damit gefunden werden. In diesem Zusammenhang hatten und haben auch wir noch genug zu tun, hauptsächlich in zwei Großprojekten. Das eine ist die Asse: Mein Kollege Jürgen Kreusch und ich sind in der „Arbeitsgruppe Optionen Rückholung“ (AGO), die für die Asse‑II-Begleitgruppe die Planungen und Arbeiten kritisch begleitet – die Bürgerinitiativen um die Asse wollten auch wissenschaftlich mitreden können. 

Die Geschäftsstelle der AGO sitzt im ehemaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe – ausgerechnet bei denen, die damals den meisten Druck für die Inbetriebnahme der Asse als Atommülllager ausgeübt haben! 
Das heutige KIT (ehemals Kernforschungszentrum Karlsruhe) gehört auch heute zu den Institutionen, die Druck auf die Inbetriebnahme von Konrad ausüben. Aber die Kollegen aus Karlsruhe, die mit in der AGO sitzen, sind nicht Teil des operativen Geschäfts mit den Abfällen. Natürlich sind trotzdem manchmal Kompromisse nötig, aber das ist auch gut begründet, da im Konsens verabschiedete AGO-Stellungnahmen ein größeres Gewicht haben. 

Um was für Themen geht es in der AGO?
Da ist zunächst die Frage: Was darf zur Stabilisierung des Bergwerkes alles wie verfüllt werden, ohne die Rückholung zu erschweren? Dann wird notwendigerweise jetzt schon diskutiert, wie die Abfälle zurückgeholt werden können.
Wenn man den Asse-Müll rausholt, muss er erstmal irgendwo hin. Also bleibt nur, eine Konditionierungsanlage und ein Zwischenlager zu bauen. Ich habe darauf schon vor Jahren hingewiesen, aber das ist damals grandios verdrängt worden. Erst als das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) vor Ort einen Standort suchen wollte, gab es den großen Aufschrei. Das BfS hatte unter intensiver Einbeziehung der AGO zwar einen Katalog für eine Suche nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt, diese aber nur in der Asse-Region durchgeführt. Nach unserer Meinung sollte der Katalog jedoch ohne räumliche Vorfestlegung angewendet werden. Da sind die Meinungen dann hart aufeinandergeprallt. Aber eine Standortfestlegung muss für die Bevölkerung nachvollziehbar sein. Dazu gehört eine Abwägung der Strahlenbelastungen für nahe oder ferne Standorte, und zwar auch unter Berücksichtigung der notwendigen Transporte. Wir haben immer argumentiert, dass das Minimierungsgebot der Strahlenschutzverordnung auch diese umfasst. Das BfS hat das hier erstmals aufgegriffen. 

Weil die Betrachtung zeigt, dass dann nur ein Standort in der Nähe der Asse in Frage kommt – das passte ihnen in den Kram! 
Ja. Aber davon kommen sie meiner Ansicht nach bei künftigen Vorhaben nun schwer wieder runter. Das verbuche ich schon als Erfolg. 

Was ist das andere Großprojekt, an dem Du beteiligt bist? 
Entria – ein Projekt des Forschungsministeriums, das die Diskussion über den weiteren Umgang mit dem Atommüll auf breite Beine stellen sollte. In Deutschland sind ja immer nur Salz, direkte Endlagerung und Gorleben untersucht worden. Entria sollte den Bogen über Ton bis zu hartem Gestein spannen. Und klären, ob nicht ein Lager mit Rückholbarkeit oder gar die dauerhafte Oberflächenlagerung die bessere Option wäre. 

Das Standortauswahlgesetz (StandAG) gab es damals ja noch nicht. Haben denn die Ergebnisse von Entria in irgendeiner Form Eingang gefunden in dieses Gesetz? 
Das war aufgrund der zeitlichen Abfolge nicht möglich. Das StandAG hat stattdessen Einfluss auf Entria genommmen. Ursprünglich waren wartungsfreie Endlagerung, Tiefenlagerung mit Rückholbarkeit sowie Oberflächenlagerung hier drei gleichberechtigte Optionen, die nebeneinander standen und möglichst verglichen werden sollten. Im Entria-Abschlussbericht werden sie nun aber leider als eine einzige integrierte Option dargestellt werden. 

Du hast ursprünglich Elektromechaniker gelernt. Wie kamst Du zur Atomkraft? 
Ich hatte in der neunten, zehnten Klasse die Schnauze voll von Schule und habe deshalb Elektromechaniker gelernt, bei Siemens. Da habe ich handwerklich viel gelernt und Einblick bekommen, von Schmieden über Kaltlöten und Treiben bis zu Feilen und Sägen – eben alles, was man mit Metall so macht. Aber die gnadenlose Hierarchie dort konnte ich nur mit Mühe ertragen. Schon während der Ausbildung habe ich mich deshalb entschlossen, danach was anderes zu machen. Die SPD hat damals gerade grandios dafür gesorgt, dass der zweite Bildungsweg möglich wurde. Mit meiner Ausbildung konnte ich also zur Technischen Fachhochschule (TFH) gehen, dort bis zur Vorprüfung studieren und hätte dann auf die Pädagogische Hochshcule (PH) wechseln und Lehrer werden können. 

Hätte?
Dann kam der Radikalenerlass, und ich habe überlegt – ob berechtigt oder nicht sei einmal dahingestellt: Wie groß ist deine Chance, da durchzurutschen? Der Verfassungsschutz hatte damals so Listen, wie viele Punkte es für welches „Vergehen“ gab, und ab einer bestimmten Punktzahl konntest du nicht mehr Lehrer werden. 

Was stand bei Dir da auf der Liste? 
Alles – von Demos, Unterschriften sammeln, selbst unterschreiben, Blockade, Vorlesung stören – also was die eben darunter verstanden haben – und so weiter und so fort. Im Rückblick ist das ein bisschen seltsam, aber viele Punkte habe ich damals wegen § 218 gesammelt. 

Abtreibung? 
An der TFH war der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) am aktivsten. Die haben auch zu § 218 viel gemacht. Ich fand dieses Thema sehr wichtig, so dass ich mich auch nicht gescheut habe, Listen, die der KBW herausgegeben hatte, zu verteilen und zu unterschreiben. 

Das brachte sicher Punkte.
Das Risiko, drei oder noch mehr Jahre zu studieren, um dann am Ende doch nicht Lehrer werden zu können, war mir jedenfalls zu groß. Dazu kam, dass langsam die Sache mit den AKW an Fahrt gewann. Und eines meiner Fächer an der TFH war Kernstrahlungsmesstechnik. Wir hatten einen guten Professor, der auch ziemlich viel praktisch entwickelt hat. Unter anderem eine Füllstandsmessanlage für die Braukessel der Hannen-Brauerei. 

Mit radioaktiven Strahlern? 
Mit Strahlern und Messsonde. Dadurch konnte man den jeweiligen Füllstand ablesen – wir haben eine Exkursion dahin gemacht. Davon abgesehen war der Professor sehr diskussionsfreudig und hat, wie ich es später in Vorlesungen auch immer versucht habe, stets beide Seiten vorgestellt. Ich habe nie rausgekriegt, ob er eigentlich für oder gegen Atomkraft war. Das Studium, das zunächst „Elektronik“ hieß, ist dann in „Datenverarbeitung und Automatisierungstechnik“ unbenannt und entsprechend ausgerichtet worden. Doch als Ingenieur in einer Firma Rationalisierungsmaßnahmen umsetzen, anderen die Arbeitsplätze wegnehmen, das wollte ich nun wirklich nicht. Also war klar, dass meine Möglichkeiten in der Industrie beschränkt waren. Hinzu kam, dass Atomkraft politisch an Bedeutung gewonnen hat. Ich wollte irgendwann wissen: Ist das naturwissenschaftlich verantwortbar oder nicht? Und weil Physik schon in der Schule mein Lieblingsfach war, habe ich dann Atom-, Festkörper- und Kernphysik studiert – und nebenher noch Nuklearmedizin: Da habe ich gelernt, was die Physik für gesundheitliche Auswirkungen haben kann. 

Inwiefern? 
Da war etwa der Schilddrüsentest, der damals noch mit Jod‑131 durchgeführt wurde. 

Radioaktives Jod? 
Das hat man gespritzt und dann gekuckt, wie stark es sich in der Schilddrüse ansammelt – ein Hinweis auf einen Krebsknoten. Mitte/Ende der 1970er Jahre stand die Methode bereits in Kritik, denn man wusste ja, wie gefährlich Jod‑131 ist. All diejenigen, die keinen Schilddrüsenkrebs hatten, …

… hatten nach der Behandlung eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit, einen zu bekommen. 
Die Alternative war das weniger schädliche Technetium‑99.. Aber es gab Patriarchen, die an ihrer alten Methode festgehalten haben. In diese Auseinandersetzung zwischen Professoren und Ärzten bin ich mitten hineingeraten. Auch meine Diplomarbeit wollte ich eigentlich in medizinischer Physik machen. Das ging zwar am Klinikum selbst damals noch nicht, bei einem gewissen Professor Kaul an der Freien Universität (FU) wäre es aber möglich gewesen. 

Wäre? 
Wir sind im Gespräch über mögliche Themen und Vorgehensweisen nicht zusammengekommen. Er hat später die Folgen von Tschernobyl in Deutschland heruntergespielt und ist Leiter des Bundesamts für Strahlenschutz geworden … 

Was hat Dich im Laufe Deines Studiums zum Atomkraftkritiker gemacht? 
Zum einen die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen. Zum anderen die Erkenntnis, dass man zwar mit Wahrscheinlichkeiten viel rumrechnen kann, ein schwerer Unfall aber letztenendes doch nicht auszuschließen ist. Meine Schlussfolgerung daraus war, dass Strom besser auf andere Art erzeugt werden sollte. 

Wie kamst Du in Kontakt mit der Anti-Atom-Bewegung? 
Letzlich über Gorleben und die Auseinandersetzung über das dort geplante Nukleare Entsorgungszentrum (NEZ). 

Warst Du auch bei der „Freien Republik Wendland“ dabei? 
Nein. Aber ich habe die Räumung des Hüttendorfs nur knapp versäumt. 

Zu spät gekommen? 
Eine Woche, ja. Es gab damals, als klar war, dass die Räumung bevorsteht, in Berlin und anderen Großstädten Patenschaften: Verschiedene Gruppen haben für bestimmte Wochen übernommen, da hinzufahren – auch "meine" Bezirksgruppe Wilmersdorf der Alternativen Liste. Aber unser Termin war am Ende eben genau eine Woche nach der Räumung … 

Du warst 30 Jahre im Geschäft. Was war früher anders als heute? 
Unter anderem war die Konfrontation mit den Atomkraftbefürwortern viel härter als heute. Mit den Grünen hatte man einen parlamentarischen Arm. Heute sind die Bürgerinitiativen oftmals auf sich allein gestellt. Bei Akteneinsichten bekam man Unterlagen meist umfassend zur Verfügung gestellt. Heute ist alles geschwärzt. 

Warum?
Es wird immer mit Terror argumentiert – oder mit Geschäftsgeheimnissen. Da geht es zum Beispiel um bestimmte Berechnungsmethoden, die der Betreiber nicht zur Verfügung stellen will, weil das „geistiges Eigentum“ sei. Ohne die kannst du Sachverhalte aber kaum beurteilen. 

Was war Dein größter Misserfolg in all den Jahren? 
Das Gerichtsverfahren zu den Zwischenlagern Gundremmingen, Grafenrheinfeld und Isar. Da haben wir überzeugende Argumente auf den Tisch gelegt und trotzdem verloren. Zugleich wurde es aber einer der größten Erfolge. 

Wie das? 
Weil genau dieselben Argumente eins zu eins dann im Prozess gegen das Zwischenlager Brunsbüttel entscheidend mit zum Erfolg beigetragen haben. Die Gefahr von gezielten Flugzeugabstürzen ist, soweit ich weiß, schon in Wyhl diskutiert worden, wenn auch nicht so detailliert. Ich war dann einer der ersten, der nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 diese Thematik in Prozesse eingebracht hat. Ich habe immer gefordert, dass Flugzeugabstürze als Auslegungsstörfälle behandelt werden müssen. 

Dann wären selbst in so einem Fall die Störfallplanungswerte der Strahlenschutzverordnung einzuhalten?
Ja. Wenn die Behörden das aber schon ablehnen und nicht die Störfallplanungswerte, sondern nur die wesentlich weniger restriktiven Katastrophenschutzrichtwerte heranziehen, dann dürfen sie zumindest nicht nur den Evakuierungsrichtwert, sondern müssen auch den Umsiedlungsrichtwert beachten. Das hatte ich in Studien schon sehr früh vertreten und in Gundremmingen gemeinsam mit Kolleg*innen vor Gericht eingebracht. Erst im Urteil zum Zwischenlager Brunsbüttel - an diesem Prozess war ich allerdings nur mittelbar durch Gutachten beteiligt - haben die Richter*innen die Argumente dann akzeptiert. 

Hat der Gesetzgeber darauf reagiert? 
Nein. Der Urteilsspruch hat bis jetzt keine Auswirkungen auf die anderen Zwischenlager gehabt. Das ist sicherheitstechnisch eigentlich ein Unding. 

Du weist seit Langem darauf hin, dass die Zwischenlagerung Jahrzehnte länger dauern wird, als bisher angenommen. Was heißt das? 
Dass die Sicherheitsstandards erhöht und die Hallen stabiler werden müssen – siehe das Brunsbüttel-Urteil. In Ahaus und Gorleben sowie bei den Hallen in Süddeutschland ist da nichts anderes als ein Neubau möglich. An den Nordstandorten muss man kucken, inwieweit Nachrüstung ausreicht. Und es sind heiße Zellen notwendig. 

Ist das inzwischen angekommen, dass man sich darum kümmern muss? 
Im Gutachterbereich und den Fachbehörden teilweise sogar mehr als in manchen Bürgerinitiativen – da wundere ich mich nur. 

Eine heiße Zelle bedeutet noch eine weitere Atomanlage am Standort – und zwar eine mit Schornstein. 
Das ist natürlich ein Spannungsfeld. Aber was ist denn, wenn der Primärdeckel eines Transport- und Lagerbehälters kaputt geht? Das bisherige Reparaturkonzept halte ich da für völlig unzulänglich. Oder, wie soll sonst überprüft werden, ob in den Behältern auch für so lange Zeiträume alles intakt bleibt. 

Was machen denn die staatlichen Institutionen? 
Die Bundesanstalt für Materialwissenschaft (BAM) untersucht seit einiger Zeit, ob der Sicherheitsnachweis für die Dichtungen auch für längere Zeiträume erbracht werden kann, weil sie erkannt haben: Da wird es ein Problem geben. Die Politik hat das ja immer verdrängt. Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) macht sich ebenfalls riesige Gedanken über längere Lagerzeiträume, auch was eine mögliche Rekritikalität in den Behältern angeht. 

Falls die Brennelemente darin zerbröseln?
Von Zerbröseln wird offen nicht geredet. Aber es gibt erhebliche Probleme, die Kritikalitätssicherheit wirklich nachzuweisen. Das ist, glaube ich, mittlerweile auch im Bundesumweltministerium angekommen. 

Welchen Punkt darüber hinaus sollten Bundes- und Landesregierungen dringend angehen? 
Wenn ich ernsthaft nach einem tiefengeologischen Atommülllager suchen will, dann muss ich jetzt an den Zwischenlager-Standorten diskutieren, was mit dem Müll in den kommenden Jahrzehnten passieren soll, bis ein solches in Betrieb geht. Zudem sollten die Regierungen eine ernsthafte Öffentlichkeitsbeteiligung in allen Verfahrensstufen organisieren, für Transparenz sorgen und Kritik und Argumente ernsthaft aufnehmen. Wie selbst grüne Minister heute damit teilweise umgehen, da wundere ich mich schon. Man nehme nur die Debatte um den AKW-Schutt! 

Der stärker strahlende Teil davon soll in Schacht Konrad eingelagert werden – wenn dieser denn je als Atommülllager in Betrieb geht. 
Dass das noch nicht der Fall ist, würde ich auch mit als unseren Erfolg verbuchen. In den letzten Jahren liegt es vor allem daran, dass sie auf Schwierigkeiten gestoßen sind, vor denen wir immer gewarnt hatten. 

Geologische Schwierigkeiten? 
Man soll eben in einem alten Bergwerk kein Endlager bauen! Gerade neulich gab es wieder eine Diskussion mit der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE). Was den Bewertungsmaßstab für den Langzeitsicherheitsnachweis für Schacht Konrad angeht, hält diese noch immer an den Sicherheitskriterien der RSK von 1983 fest – und begründet so, warum sie nicht die Sicherheitsanforderungen des Umweltministeriums von 2010 heranzieht, in denen der Grenzwert um Faktor drei, für wahrscheinliche Ereignisse sogar um Faktor 30 niedriger liegt. In den Sicherheitskriterien von 1983 steht aber zugleich drin, dass ein Bergwerk für radioaktive Abfälle immer in unverritztem Gestein errichtet werden sollte und nicht in einem vorhandenen Bergwerk, in dem früher Rohstoffe abgebaut wurden. Darüber haben sie sich einfach hinweggesetzt. Welche Probleme das gibt, hat man zuletzt ja in Schacht 1 gesehen. Die Wände da sind so instabil, dass sie das Fördergestell zunächst nicht verankern konnten. Das hat zu einer weiteren Verzögerung geführt, und möglicherweise wird es auch 2023 nichts mit der Inbetriebnahme, weil sie in Schacht 2 ähnliche Probleme haben. 

Die ersten Stellungnahmen der "Gruppe Ökologie" (GÖK) zu Schacht Konrad sind von 1982 … 
So lange läuft das Verfahren schon. Viele der Verzögerungen der letzten drei Jahrzehnte resultieren auch aus dem Erörterungstermin, bei dem die Einwenderseite mit unserer Unterstützung gut argumentiert hat. 

Was bringt das am Ende, wenn das Atommülllager schließlich doch in Betrieb geht? 
Zum einen sind die Sicherheitsanforderungen schon weiter erhöht worden. Zum anderen hat man sich über den Langzeitsicherheitsnachweis auf allen Ebenen nun sehr viel mehr Gedanken gemacht als damals. Und drittens sehe ich zumindest theoretisch noch immer die Chance, dass Konrad nicht in Betrieb geht – weil vielleicht doch zu viele Probleme existieren und sie ja eigentlich noch nachweisen müssen, dass das ein Lager nach dem Stand von Wissenschaft und Technik ist. Und zwar zu dem von jetzt. 

Der politische Druck, das Lager in Betrieb zu nehmen, ist aber sehr groß. 
… und es gibt nicht einmal mehr Grüne, die dem was entgegensetzen. Im Gegenteil: Maßgebliche Funktionsträger sind jetzt ja sogar dafür, dass es möglichst schnell in Betrieb geht. 

Was lässt Dich trotzdem noch hoffen?
In der Stadt Salzgitter wird überlegt, einen Antrag auf Widerruf des Planfeststellungsbeschlusses zu stellen oder einen solchen zu unterstützen. 

Schade eigentlich, dass Ihr euer Büro schließt. 
An laufenden Aufträgen arbeiten wir ja zumindest noch bis Jahresende weiter … 

Interview: Armin Simon

Eine Kurzfassung dieses Interviews erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin 38, Februar 2018

 

 

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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