Für die Menschen in Europa bestehe keine Gefahr. Der Ursprungsort des Rutheniums-106 hätte aber „großräumig evakuiert“ werden müssen, berichten jetzt Fachleute zu den erhöhten Strahlungsmessungen von Anfang Oktober. Parallel dazu meldeten in den vergangenen Tagen einige Atomanlagen Störfälle.
Anfang Oktober schlugen Wetterdienste Alarm: An verschiedenen Orten in Europa wurden erhöhte Werte von radioaktivem Ruthenium-106 in der Luft nachgewiesen. Schnell wurde ein Unfall in einem Atomkraftwerk ausgeschlossen, dafür fehlten weitere radioaktive Isotope wie Rhodium und Palladium. Doch jetzt haben Forscher berechnet, dass es sich um eine dramatische Freisetzung handeln musste, zwischen 100 bis 300 Terabecquerel.
Freisetzung am Unfallort „massiv“
In dem betroffenen Gebiet hätte eine „großräumige Evakuierung“ erfolgen müssen, heißt es im Abschlussbericht der Untersuchungen durch das französische Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN). Die Quelle der Freisetzung sei vermutlich im südlichen Ural zu verorten, in Russland oder Kasachstan, berichtete das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Nach Wetterberechnungen des IRSN soll der Ursprung der Freisetzung „zwischen Ural und Wolga“ liegen, etwa 1000 Kilometer östlich von Deutschland.
Die in Europa gemessene Konzentration des Ruthenium-106 war sehr gering. In Deutschland habe die höchste Konzentration etwa 5 Millibecquerel pro Kubikmeter Luft betragen, so das BfS. Nach Angaben der niederländischen Strahlenschutzbehörde RIVM wurden mit 42 Millibecquerel pro Kubikmeter die höchsten Konzentrationen im Raum Wien gemessen. Daraus ergebe sich aber „keinerlei Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung“, bestätigt jetzt das französische IRSN.
Das radioaktives Nuklid nicht natürlichen Ursprungs wird in Reaktoren hergestellt und in der Nuklearmedizin zur Krebstherapie eingesetzt. Selten kommt es auch in Radionuklidbatterien zum Einsatz, die Satelliten und Raumsonden mit Strom versorgen. Doch Russland bestreitet einen Störfall in einer Atomanlage. Auch einen Satellitenabsturz habe es nicht gegeben. Die Ursache bleibt also weiter unklar.
Ähnlicher Vorfall im Januar
Ein ganz ähnlicher Vorfall ereignete sich Ende Januar 2017. Über Mitteleuropa wurden bis zu vierfach erhöhte Jod-131 Konzentrationen gemessen. Die Regierungen in Skandinavien zeigten sich besorgt. Ein Atombombentest oder ein Reaktorunfall wuden als Ursache für diese erhöhten Werte vermutet. Eine Mess-Station an der norwegischen Grenze, nahe der russischen Kola-Halbinsel war die erste, die Alarm schlug. Auf Kola lagert Russland große Mengen Atommüll, vor allem aus alten Atom-U-Booten. Eine offizielle Antwort auf die erhöhten Messwerte gibt es bis heute nicht.
„Die bestehenden Strahlungs-Frühwarnsysteme haben in beiden Fällen versagt“, kommentieren die „Netzfrauen“. „Ebenfalls versagt hat wohl auch das Verständnis der Verursacher, dass Stör- und Vorfälle solcher Art einer Meldepflicht unterliegen.“
Blicken wir in der Geschichte der Atomenergienutzung zurück, dann ist eines klar: Passiert ein schwerer Unfall, versuchen Anlagen-Betreiber und Politik alle Details so schnell wie möglich zu vertuschen – und so lange wie möglich zu verheimlichen.
Lecks & Pannen
In den vergangenen Tagen meldeten außerdem eine ganze Reihe von Atomanlagen Störfälle. Der Betreiber des französischen AKW Paluel etwa hatte Mängel an den Notstromdieselaggregaten der Blöcke 1 und 2 festgestellt. Die Atomaufsicht ordnete das Ereignis in die internationale Meldekategorie mit „INES 2“ ein, ein ernstzunehmener Störfall, bei dem wichtige Sicherheitsvorkehrungen ausfallen.
Das besonders in der Kritik stehende belgische AKW Tihange meldete ebenfalls eine Panne: In der Nacht auf Freitag war Block 3 wegen technischer Probleme automatisch abgeschaltet worden. An einem Ventil im Nebenkühlwassersystems, das zum „nichtnuklearen Teil“ des Kraftwerks gehört, müsse repariert werden, so ein Kraftwerks-Sprecher.
Eine außerplanmäßige Abschaltung erfolgte auch im tschechischen Atomkraftwerk Dukovany. Dort trat wegen eines kleinen Lecks Kühlmittel aus dem nicht-radioaktiven Sekundärkreislauf aus, berichtete der Betreiber. Der betroffene vierte Reaktorblock war erst im September nach einer 120-tägigen Pause wegen Revision und Brennelementewechsels wieder ans Netz gegangen.
„Das zeugt von unzureichenden Kontrollen während der Betriebspause“, kritisiert der tschechische Atomkraftgegner Pavel Vlcek.
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Ob technischer Defekt oder Flugzeugabsturz, Materialermüdung oder Unwetter, Naturkatastrophe oder menschliches Versagen – in jedem Atomkraftwerk kann es jeden Tag zu einem schweren Unfall kommen. Ein Super-GAU bedroht Leben und Gesundheit von Millionen.
Quellen (Auszug): grs.de, dpa, n-tv.de, spiegel.de, irsn.fr, orf.at, netzfrauen.org; 11./12./13.11.2017