Noch vor Baubeginn von Tihange-2 waren die riskanten Risse in Teilen der Reaktorhülle bekannt. Unterdessen haben zehntausende Menschen in der von einem möglichen GAU betroffenen Region um Aachen Jodtabletten beantragt.
Seit April 1975 sind Risse in den Reaktorbehältern der belgischen Skandalmeiler Tihange-2 und Doel-3 bekannt. Wie der SPIEGEL berichtet, liegen dem Nachrichtenmagazin interne Sitzungsprotokolle und Analysen vor, die die belgische Atomaufsicht FANC der deutschen Grünen-Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl zur Verfügung gestellt hat. Damit hatten die damals Verantwortlichen sogar noch vor dem offiziellen Baubeginn des Reaktorblock 2 in Tihange Kenntnis über die potentiellen Schwachstellen. Beide betroffenen Reaktoren wurden 1982 in Betrieb genommen, laufen also schon 35 Jahre.
Nach einer Kontrolle der Reaktorhüllen mit „modernen Messinstrumenten“ wurden die Schwachstellen 2012 erstmals öffentlich. Damals mussten die beiden AKW zunächst ihren Betrieb einstellen. 2015 wurden bei weiteren Tests insgesamt 3149 Haarrisse in der Reaktorhülle von Tihange 2 entdeckt, in der von Doel 3 über 13.000.
Die Dokumente belegen aber mehr: Offenbar wurden die technischen Defizite während der Bauphase vertuscht. Bei einer auf den 4. April 1975 datierten Ultraschalluntersuchung wurden Risse im „Bauteil C0065“ gefunden. Am 22. April wurde nach einem weiteren Ultraschalltest das Bauteil für „akzeptabel“ erklärt. Genau in diesem Bauteil wurde 2012 eine große Zahl an Haarrissen nachgewiesen.
Weiterbetrieb ist zu unsicher
Kritische Wissenschaftler sehen ein ernsthaftes Problem für die Stabilität der Hülle. Diese soll immerhin bei einem schweren Unfall den Austritt von Radioaktivität in die Atmosphäre - und damit eine großflächige Verseuchung - verhindern. Gemäß dem belgischen Gutachter Bel V stellen Anzeigen, wie sie in Doel 3 und Tihange 2 heute vorliegen, eine „Abweichung von der Anforderung dar, Materialien mit höchster Qualität einzusetzen“ und schwächen somit die „erste Ebene des gestaffelten Sicherheitskonzepts („Defense in Depths Concept“). Die Stabilität der Reaktorbehälter sei „zu schwach für einen Weiterbetrieb“, warnten kürzlich Forscher der Universität Löwen. Sie untersuchten die Entwicklung der Rissbefunde und stellten fest, es bilden sich immer weitere. Die belgische Atomaufsicht hält die Reaktoren aber weiterhin für „sicher“.
Zehntausende Jod-Tabletten verteilt
Aus Angst vor einem schweren Atomunfall haben in der Region Aachen inzwischen mehr als 75 000 besorgte Bürger vorsorglich Jodtabletten beantragt. Diese sollen bei einem schweren Störfall eingenommen werden und die Aufnahme von radioaktiven Jod in den Körper verhindern.
50.000 Menschen bildeten am 25. Juni ein Band des Protestes über 90 Kilometer zwischen dem AKW Tihange und der Stadt Aachen. Tihange ist knapp 60 Kilometer Luftlinie von der grenznahen Stadt entfernt. Die Städteregion Aachen, Nordrhein-Westfalen sowie über 100 Kommunen klagen gemeinsam gegen den Weiterbetrieb von Tihange-2.
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Quellen (Auszug): Deutscher Bundestag, Drucksache 18/13125; spiegel.de, nwzonline.de, dpa, jungewelt.de; 22./25.9.2017