Nach der Kette ist vor dem Abschalten

02.08.2017 | Armin Simon

Atomkraft spielt bisher kaum eine Rolle im Wahlkampf. Dabei entscheidet die kommende Bundesregierung, ob die Energiewende wieder Fahrt bekommt und die AKW in Deutschland tatsächlich vom Netz gehen.

Protestaktion gegen Atomenergie
Foto: Michaela Mügge / publixviewing.de

Der FDP-Bundestagskandidat grinst in die Kamera, er hat das Foto selbst gepostet: Frank Schniske am 25. Juni in Aachen, das Anti-Atom-Kettenband in der Hand: „Atomkraft überall abschalten", darunter exemplarisch die Namen von neun Reaktoren aus vier Ländern, vom niedersächsischen AKW Grohnde bis zum niederländischen AKW Borssele.

Atomkraft überall abschalten – dafür gehen an diesem Sonntag 50.000 Menschen auf die Straße. Der von Rissen durchzogene Pannenmeiler im belgischen Tihange, Luftlinie 65 Kilometer von der Landesgrenze entfernt, ist Aufhänger der Aktion. Aber er ist nicht die einzige Atom-Gefahr für Nordrhein-Westfalen: Die niedersächsischen AKW Lingen/Emsland und Grohnde stehen beide nicht mal 20 Kilometer hinter der Landesgrenze.

Neben dem Städteregionsrat der Städteregion Aachen, einem CDU-Mann, und der von einem Jamaika-Bündnis unterstützten Kölner Oberbürgermeisterin ist auch der Aachener CDU-Oberbürgermeister Schirmherr der „Kettenreaktion Tihange“. Dass „trotz Atomausstiegs-Beschluss auch in Deutschland noch acht Meiler in Betrieb sind", schreibt die Stadt auf ihrer Webseite, sei „ein weiterer guter Grund, bei der Menschenkette mitzumachen!“

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So weit sind die meisten Parteipolitiker*innen in Berlin noch lange nicht. Was AKW angeht, herrscht dort ein schwarz-rot-gelb-grüner Parteienkonsens, der in etwa lautet: Atomkraftwerke sind gefährlich und gehören abgeschaltet, aber nur, wenn sie im Ausland stehen oder, schlimmer noch, im Ausland und nahe der deutschen Grenze stehen. Inländische Meiler hingegen dürfen noch viele Jahre weiterlaufen.

Gefährlicher Parteienkonsens

„Schrottreaktoren wie Tihange und Doel in Belgien oder Fessenheim und Cattenom in Frankreich müssen sofort vom Netz“, fordern etwa die Grünen in ihrem Bundestagswahlprogramm. Inländische AKW hingegen müssen demselben Wahlprogramm zufolge lediglich „höchsten Sicherheitsstandards entsprechen“. Abschalten ist damit – mit Ausnahme des AKW Gundremmingen – nicht gemeint. (Für die AKW Brokdorf und Lingen/Emsland strebt die Partei immerhin etwas frühere Abschalttermine an, weil sie die für Windstrom benötigten Stromleitungen besonders verstopfen.) „Wir werden bei anderen Staaten aktiv dafür werben, aus der Atomenergie auszusteigen“, verspricht die SPD; was Deutschland angeht: Weiterbetrieb der AKW bis Ende 2022. Das schreiben auch CDU und CSU. Die FDP spricht vom „Ausstieg aus der Kernenergienutzung“ in der Vergangenheit, als ob dieser schon Realität sei, plädiert aber gleichzeitig für einen „vielfältigen Energiemix“. Und die AfD fordert offen, die AKW bis zum Ende ihrer „technischen Nutzungsdauer“ zu betreiben – eine kaum verholene Umschreibung für eine Laufzeitverlängerung. Einzig die Linkspartei will alle noch laufenden AKW „unverzüglich“ abschalten, hängt das Thema aber nicht sehr hoch.

Die Abschaltung der AKW würde den Strommarkt entspannen. Sie würde die Netzgebühren reduzieren, weil weniger Überschussstrom für den Export produziert würde, der nicht abgeführt werden kann und deshalb teure Eingriffe in die Stromerzeugung („Redispatch“) erfordert. Sie würde die EEG-Umlage entlasten und unterm Strich sogar einen zügigen Kohleausstieg erleichtern, weil Atom- und Kohleausstieg dann nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden könnten.

Möglichkeiten für die nächste Bundesregierung, AKW früher vom Netz zu bekommen oder für unbestimmte Zeit auszuschalten, gäbe es einige. So könnte der Bund etwa die bayerische Atomaufsicht anweisen, beide Reaktoren des AKW Gundremmingen wegen der gravierenden Mängel im Notkühlsystem stillzulegen. Ebenso könnte sie den Betrieb eines jeden Meilers untersagen, solange dieser keinen Schutz gegen den Absturz großer Passagierflugzeuge nachgewiesen hat. Mit einer einfachen Gesetzesänderung ließe sich unterbinden, dass AKW-Betreiber Stromproduktionsrechte („Reststrommengen") bereits abgeschalteter Reaktoren auf noch laufenden Anlagen übertragen und deren Laufzeit damit „heimlich“ verlängern.

Eine verfassungskonforme Brennelementesteuer oder Ähnliches würde den Weiterbetrieb der Reaktoren ökonomisch unattraktiv machen. Überfällig ist zudem eine Regelung, die den Einspeisevorrang der erneuerbaren Energien wiederherstellt – bei zu großem Stromangebot müssen nicht die erneuerbaren Energien, sonden die Atomkraftwerke ihre Leistung drosseln!

Und natürlich könnte die Bundesregierung auch das Atom-Risiko an sich neu bewerten und die Laufzeiten der Reaktoren verkürzen. Dieses Recht hat das Verfassungsgericht erst im vergangenen Jahr ausdrücklich bestätigt.

Laut dem derzeitigen Atomgesetz verlieren nur zwei der acht Meiler in der kommenden Legislatur ihre Betriebsgenehmigung: Gundremmingen B Ende dieses Jahres, Philippsburg‑2 Ende 2019. Alle anderen sechs Reaktoren dürfen bis nach der nächsten Wahl weiterlaufen. Ob sie 2022 dann tatsächlich vom Netz gehen, wie es das Atomgesetz seit 2011 verspricht, wird allerdings zu großen Teilen von der Energiepolitik der kommenden vier Jahre abhängen. Zwar könnten schon heute alle acht Meiler sofort wegfallen – siehe auch Interview Seite 12/13. Politisch wird der Druck, sie länger laufen zu lassen, jedoch umso größer ausfallen, je profitabler sie sind und je langsamer der Ausbau der erneuerbaren Energien vorankommt.

Die jährlichen Investitionen in diese haben sich im Vergleich zu 2010 halbiert, der jährliche Zuwachs bei der Solarstromerzeugung ist gar auf ein Fünftel eingebrochen. Unter solchen Voraussetzungen ist selbst eine erneute Laufzeitverlängerung der AKW nicht auszuschließen. Firmieren würde auch dies sicher unter „Atomausstieg" – dauert eben einfach länger. Eine entsprechende Änderung des Atomgesetzes kann jede Regierung mit einfacher Mehrheit beschließen.

Vorgeschmack aus NRW

Bei der „Sonntagsfrage“ Anfang Juli kam die Union auf 39, die FDP auf 9 Prozent. Dass eine oder beide Parteien der neuen Koalition angehören, wäre bei einem solchen Wahlergebnis sehr wahrscheinlich. Was das energiepolitisch bedeuten könnte, davon liefert der druckfrische schwarz-gelbe Koalitionsvertrag aus Nordrhein-Westfalen einen Vorgeschmack: Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) abschaffen; Ökostrom abregeln, wenn Kohle- und Atomstrom die Netze verstopfen; Windkraftausbau bremsen. Dafür ein deutliches Bekenntnis zu konventionellen Großkraftwerken, die als „Brückentechnologie“ bis auf Weiteres „unverzichtbar“ seien.

Auch zu Atomkraft steht in der NRW-Koalitionsvereinbarung ein Satz drin: „Wir setzen uns (...) mit Nachdruck für die Abschaltung der Kernkraftwerke in Tihange und Doel ein.“ Zu den AKW Grohnde und Lingen/Emsland sowie zu allen anderen AKW in Deutschland steht nichts drin.

 

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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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