"Ausbau der Erneuerbaren geht deutlich zu langsam"

01.08.2017 | Armin Simon
Wirtschaftswissenschaftlerin und Expertin für Energiefragen Claudia Kemfert
Prof. Dr. Claudia Kemfert

Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert über den Versuch der fossil-atomaren Lobby, die Energiewende auszubremsen, und die Gefahr einer erneuten Laufzeitverlängerung für längst überflüssige AKW

Frau Kemfert, neun von zehn Bürger*innen halten die Energiewende für „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Sie jedoch sehen sie in Gefahr – warum?
Claudia Kemfert: Die Energiewende ist mit einem Sprint gestartet. Aber in den letzten Jahren wird sie von Seiten derer, die mit den konventionellen Energien ihr Geld verdienen, systematisch schlecht gemacht und ausgebremst. Die Akzeptanz der Energiewende ist glücklicherweise nach wie vor hoch, sonst würde sie noch mehr behindert als ohnehin schon.

Der Kampf zwischen erneuerbaren Energien und der fossil-atomaren Energiewirtschaft ist also auch in Deutschland noch nicht entschieden?
Nein. Wir sind mitten im Kampf, ich bezeichne es sogar als Krieg um Energie. In den USA können wir sehen, wie weit das gehen kann, wenn das fossil-atomare Kapital seinen Handlanger als Präsidenten gefunden hat und dieser dann nicht nur den Klimaschutz torpediert, sondern auch den Markt für neue innovative Energietechnologien behindert. Die Gefahr ist hierzulande auch da. Wir beobachten seit vielen Jahren, wie gut die PR-Kampagnen gegen die erneuerbaren Energien laufen: Permanent geht es um Stromleitungen, die angeblich erst gebaut werden müssten, oder um Speicher, die erst eingeführt werden müssten, bevor die erneuerbaren Energien ausgebaut werden können – alles Gespensterdebatten, um die Energiewende auszubremsen oder ganz zu stoppen. Und das teilweise sehr erfolgreich: Die Politik hat bereits einige Entscheidungen getroffen, die die Energiewende eher behindern. Der Zubau der Erneuerbaren geht drastisch zurück. Zugleich genehmigt der Wirtschaftsminister Abwrackprämien für Kohlekraftwerke, die den Strompreis ebenso nach oben treiben wie die überdimensionierten Stromleitungen – und das schiebt man dann wieder der Energiewende in die Schuhe.

Worum geht es in diesem Kampf?
Um Marktanteile und Einflussmöglichkeiten – schlichtweg darum, wer in Zukunft im Energiemarkt eine tragende Rolle spielen kann. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) hat den ja sehr stark aufgebrochen, es sind viele Bürgerenergien und mittelständische, kleinere Unternehmen dazugekommen. Die alten großen Energieversorger verlieren immer mehr ihre Basis. Deshalb versuchen sie, die Energiewende zu stoppen oder zumindest zeitlich zu verzögern: Sie wollen ihr Konventionelles-Energien-Geschäft möglichst lange konservieren. Wir Bürgerinnen und Bürger, Verbraucher, Unternehmer, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen die Energiewende deshalb jetzt verteidigen, alle gemeinsam, und dafür sorgen, dass ihre Ziele auch umgesetzt werden.

Geht der Ausbau der erneuerbaren Energien zu schnell?
Ein weiterer Mythos. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht nicht zu schnell, sondern deutlich zu langsam. Sie werden derzeit künstlich ausgebremst, der Zubau massiv begrenzt. Das Ziel ist ja, 2050 einen Anteil von 80 Prozent aus erneuerbaren Energien zu haben. Wenn wir aber so weitermachen wie zuletzt, werden wir das sicher nicht erreichen.

Schon heute werden aber, wenn in Norddeutschland viel Wind weht, immer häufiger Windkraftanlagen abgeregelt – weil die Leitungen angeblich nicht ausreichen.
Die Ursache dieses Problems liegt darin, dass wir noch immer sehr viel Kohle- und Atomstrom im System haben. Der belegt die Leitungen – und deswegen werden die Windkraftanlagen abgeregelt. Übrigens auch, weil Atom- und Kohlekraftwerke so unflexibel sind. Das ist natürlich widersinnig, es müsste genau umgekehrt sein: Kohle- und Atomkraftwerke müssten vom Netz, die Erneuerbaren müssen Vorrang bekommen. Für sie müssen wir die Netze nutzen – und nicht zur künstlichen Verlängerung des konventionellen Energiesystems!

Zumindest auf dem Papier steht aber doch ein Einspeisevorrang der erneuerbaren Energien im Gesetz …
… das 2009 so geändert wurde, dass auch Kohle- und Atomkraftwerke diesen Vorrang nutzen dürfen – zu Ungunsten der erneuerbaren Energien.
Wenn jemand mit abgeschriebenen Kohle- oder Atomkraftwerken preisgünstig Strom produziert, speist er diesen seither auch als erstes ins Netz ein. Die Kohlekraftwerke laufen fast dauerhaft durch und werden in den seltensten Fällen abgeregelt, auch bei wenig Bedarf und gigantischem Stromüberschuss. Den überschüssigen Strom exportieren wir dann zu niedrigen Preisen ins Ausland – das ist widersinnig.

Die Umweltminister der Länder haben vor einigen Wochen gefordert, die Einspeisung von Atomstrom in den sogenannten Netz-engpassgebieten in Norddeutschland zu reduzieren. Nähme man das ernst, müsste man die AKW Brokdorf und Emsland doch sofort abschalten …
Das wäre auch problemlos möglich. Man könnte sogar alle AKW schon heute abschalten, ohne dass es nennenswerte Probleme im deutschen Stromsystem gäbe.

Obwohl die neuen Mega-Stromleitungen noch nicht gebaut sind? Der grüne baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller hat diese als „unverzichtbares Element der Energiewende“ bezeichnet, sein schleswig-holsteinischer Kollege Robert Habeck, ebenfalls ein Grüner, sieht ohne „SuedLink“ gar die Versorgungssicherheit in Süddeutschland in Gefahr.
Das ist ein immer wieder verbreiteter Mythos, weil man vom jetzigen Stromsystem ausgeht, mit einem gleichbleibend hohen Kohlestrom-anteil, wo man dann zusätzlich die zunehmenden erneuerbaren Energien einspeisen will. Und weil man den Modellsimulationen der Netzbetreiber, mit denen sie diese neuen Leitungen rechtfertigen, uneingeschränkt vertraut. Man geht weiterhin von erheblichen Überkapazitäten im Stromsystem aus. Unsere Modellrechnungen zeigen, dass man, wenn man Atom- und Kohlekraftwerke runterfahren würde, ausreichend Leitungskapazitäten hätte, zumal wenn wir die erneuerbaren Energien samt Speicher dezentral ausbauen, nutzen und speichern. Es ist schade, dass wir permanent nur die Diskussion über Stromautobahnen führen, ohne die eigentlichen Herausforderungen auf dezentraler Ebene zu lösen.

Laut Atomgesetz sollen 2022 die sechs größten Reaktoren binnen zwölf Monaten abgeschaltet werden: drei am Anfang, drei am Ende des Jahres. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es dann heißt: Das geht nun leider nicht, weil Leitungen oder Speicher fehlen?
Dies ist durchaus wahrscheinlich, wie man heute an den geführten Diskussionen und Gespensterdebatten sehen kann. Weder mangelnde Stromleitungen noch fehlende Speicher behindern derzeit die Energiewende. Man hat allen lange genug eingeredet, wir hätten keine ausreichenden Stromleitungen und – aufgrund des Ausbremsens der Energiewende – vor allem in Süddeutschland nicht genügend Strom, um die Atomkraftwerke abzuschalten. Die Mythen werden geglaubt, auch wenn das Gegenteil richtig ist.

Welche Folgen für den Strommarkt hätte ein Abschalten aller AKW?
Es würde den Markt bereinigen – derzeit haben wir ja massive Kraftwerks-Überkapazitäten. Die erneuerbaren Energien würden so mehr Platz im System bekommen. Das rasche Abschalten der AKW wäre ein erster wichtiger Schritt für den Komplettumbau des Energiesystems, der nächste muss dann ein Kohleausstieg sein. Je weniger konventionelle Energien wir haben, desto eher kann der Markt auch in Richtung erneuerbaren Energien umstrukturiert werden.

Interview: Armin Simon

Dieses Interview erschien im .ausgestrahlt-Magazin 36, August 2017
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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