Mein "Gorleben-Moment" – Teil 4/5

04.05.2017 | Jan Becker

Kürzlich veröffentlichte die Betreiberfirma des Zwischenlagers Gorleben ihren jährlichen Strahlenbericht und verkündete erneut: Der Atommüll habe „keine radiologischen Auswirkungen auf die Umgebung“. Auch wenn die Suche nach einem Atommüll-Lager in Deutschland neu gestartet wurde - im Wendland befinden sich bereits 113 Castoren, gefüllt mit den gefährlichsten Hinterlassenschaften der Menschenheitsgeschichte.

Viele von uns beteiligten sich in den letzten Jahrzehnten an den Protesten, weil klar war: Jeder weitere Transport ins Wendland schafft Fakten für das ewige Atommüll-Lager im Salz. Wir fragten Euch nach Eurem „Gorleben-Moment“. Erlebnisse aus den letzten 40 Jahren, die euch in Erinnerung blieben und die Euch geprägt haben. Hier kommt Teil 4 der fünfteiligen Serie.

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Unter Sternen

von Sylvia Hartung

„Castor-Blockade 2010: Am Nachmittag hatten wir die Straße nach Gorleben „erobert“, nun ist es Nacht. Wir, meine Kinder, mein Mann und ich, liegen dick eingemummelt in doppelten Schlafsäcken, mit Mütze, Schal und Handschuhen auf der Straße nach Gorleben. Unter uns Isomatten und eine dicke Lage Strohsäcke, über uns ein herrlicher Sternenhimmel, Atemwolken, Raureif auf den Schlafsäcken, Musik, leise Gespräche. Die Kinder schlafen, sie können das in jeder Situation, aber mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Ich schaue hoch zu den Sternen und fühle mich so eins mit der Welt, der Natur und den vielen Tausend Menschen, die mit mir hier liegen. Tausend verschiedene Menschen, aber alle mit einem gemeinsamen Anliegen - den Castor aufzuhalten und dafür zu kämpfen, dass der ganze Atomkraft-Wahnsinn endlich aufhört.“

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Mein Castorurlaub

von Stefan Seltmann aus Bassum

„Irgendwann Mitte der 90er Jahre war ich bei der Inbetriebnahme einer Windkraftanlage in Jeetzel. Die Anreise ins Wendland war durch die viele Polizei beschwerlich, ebenso die Hotelsuche, denn es war Castorwoche. Von der Windmühle habe ich eine größere Gruppe mit Fahrrädern einen Wirtschaftsweg langfahren sehen. Die Gruppe hatte Spaß und war bis oben ins Maschinenhaus zu hören. Dann kam ein Hubschrauber, ich glaube, vom Bundesgrenzschutz, der flog im Tiefflug auf die Gruppe zu und verbreitete dort direkt über deren Köpfen Panik. Auch mir auf der Anlage wurde es ganz mulmig, da der Hubschrauber deutlich unter der 40 Meter hohen Windkraftanlage flog. Die Fahrradgruppe ist wegen dieses Hubschrauberterrors in alle Himmelsrichtungen auf die Wiesen und Äcker geflüchtet und der Hubschrauber flog einigen noch hinterher, bevor er abdrehte und wieder verschwand. Diese schreckliche Szene war mein Schlüsselerlebnis, mich mit den Menschen im Wendland zu solidarisieren. Seitdem habe ich mir bei fast jeden Castortransport ins Wendland meinen sogenannten Castorurlaub genommen, um an den Blockaden teilnehmen zu können. Dabei habe ich gelernt, auch wenn der Castor durchkommt - der Widerstand dagegen ist unbesiegbar.“

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Der Huflattich

von Ulrich Straeter aus Essen

„Es war das Jahr 1980, als wir uns mit unserem blau lackierten VW-Bus an einem Wochenende in Gorleben aufhielten. Das Reserverad befand sich am Bug des Wagens, auf die Radkappe hatten wir die Antiatomsonne mit dem zur Faust geballten Händchen gemalt. Wir genossen die heitere, solidarische Stimmung auf dem Gelände, und selbst mein Rausschmiss (zu Recht) aus einer reinen Frauenveranstaltung konnte meine gute Laune nicht stören. Später wurde das Hüttendorf brutal geräumt, was ich bis heute dann und wann – um meine Wut wach zu halten – in dem tollen Bild-Text-Band „Republik Freies Wendland“ von Günter Zint und vielen Helfern und Helferinnen nachlese.

VW-Radkappe
Foto: Ulrich Straeter
Die VW-Radkappe gibt es noch

Wir übernachteten in unserem Bus am Rand des Ortes. Als es dunkelte, hörten wir zufällig das Hörspiel „Die Stunde des Huflattichs“ von Günter Eich im Autoradio. Es spielt zwar zunächst in Süddeutschland, wir transponierten die Handlung aber sofort nach Gorleben, wo der Huflattich plötzlich beginnt, das Dorf, den Lebensmittelladen und alles andere zu überwuchern: Bald bricht die Versorgung mit elektrischem Strom und Lebensmitteln zusammen. Als weite Teile der Erde von Huflattichwaldungen überzogen sind, wandert eine Gruppe übrig gebliebener Menschen nach Südfrankreich aus und erreicht eine Höhle in der Auvergne. Die Menschen lesen aus bestimmten Blattstellungen ab, der Huflattich habe mittlerweile Angst. Es ist um ihn geschehen, seit er Verstand bekommen hat. Die Menschen kommunizieren inzwischen per Trommelschlag, was auch der Huflattich zu verstehen scheint. Zum Schluss dominieren die Berge, die ihre eigene Sprache sprechen. Einer der staunenden Menschen sagt: „Wir waren so hochmütig zu vermuten, dass wir die einzige Möglichkeit wären.“

Dieses Thema im Zusammenhang mit Gorleben, mit dem Griff des Menschen nach der Atomkraft, mit der völlig ungelösten Frage, was mit dem radioaktiven „Abfall“ geschehe, machte uns frösteln. Am nächsten Tag schien die Sonne, auf uns, auf das Dorf und auf die Antiatomsonne am Bus.“

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Zwei (-einhalb von vielen) konträre(n) „Momente(n)“

von Regina Schulze

„Noch in der ersten Hälfte der 80er Jahre: Ich stand mit vielen anderen DemonstrantInnen nicht weit vom Tor zum Zwischenlager am Waldrand. Die Zufahrtstraße war von Polizisten flankiert, die damals in ihrem Tuchoutfit noch einen zivilisierten Anblick boten im Gegensatz zu den heute martialisch gerüsteten Kampfmaschinen. Als die ersten Castoren in Sicht kamen, schossen Wasserwerfer in Richtung Wald. Ich dachte, die Beamten in den Wasserwerfern werden ihre Kollegen wohl kaum beschießen und rückte auf die Polizeikette vor. Plötzlich entdeckte mich ein Polizist in der Kette, winkte mich zu sich heran, wies auf einen Platz hinter sich und sagte: “Hier sind Sie sicher.“

November 2011 an der Schiene: Ich zog mit einer kleinen Gruppe durch den Wald in Richtung Gleise. Plötzlich tauchten Polizisten mit Hunden auf und liefen hinter uns her. Einige von uns blieben daraufhin stehen, einige vor mir bogen ab, als vor uns ein modriger, tiefer Graben auftauchte, andere hinter mir nahmen Anlauf und sprangen über den Graben. Ich stand am Rand des Grabens und fürchtete, es nicht hinüber zu schaffen und versuchte, mich denen, die abgebogen waren, anzuschließen, als ich hinter mir hörte: „Bleiben Sie stehen oder ich lasse den Hund auf Sie los!“ Ich drehte mich um. Ein so hübscher Hund!... und ging weiter. Wieder und dieses Mal noch lauter und hektischer die Stimme: „Bleiben Sie stehen oder ich mache von der Schusswaffe Gebrauch!“ Ich fühlte gar nichts, auch keine Angst und dachte nur: Wird der es wagen, mir in den Rücken zu schießen?... und ging weiter. Von der anderen Seite des Grabens hörte ich noch rufen: „Ich bin von der Presse!“

Wir kamen bis zu den Gleisen durch, aber zu spät, um sie zu besetzen, zu spät, um den Zug zu stoppen. Einer von uns rannte wild mit den Armen fuchtelnd und schreiend auf die Castoren zu, ein Polizist versuchte noch (sich selbst gefährdend), ihn zurückzuhalten.
Wir alle anderen, DemonstrantInnen und Polizisten, wagten uns nicht mehr näher an die tödlich strahlende Fracht heran, die an uns vorüberrollte. Und da fühlte ich wieder, Tränen rannen mir übers Gesicht."

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Ein Leihwagen

von Roland Schüler, Friedensbildungswerk Köln

„Von Stadtteilauto Lüneburg. Am Bahnhof Lüneburg. Der Wagen brachte mich das letzte Teilstück meines Weges von Köln nach Gorleben zu einem der Castortransporte an einem kalten Novembertag. Wann? Vergessen, weil so viele Besuche. Er war mein warmes Refugium, mein Rückzugsort, wenn mein Körper und ich mal Ruhe brauchten in den Tagen und Nächten beim Warten auf den Transport, bei den Blockaden und beim Erleben des Fahrens der Laster. Vorher hat der Wagen mich zu den wichtigen Orten der Aktionen gebracht. Während des Transportes stand er ruhig. Die Straße gehörte den Atommächtigen. Doch danach konnte er wieder frei fahren in Gorleben und er brachte mich im Sonnenschein nach Lüneburg zum Bahnhof zurück. Bis zum nächsten Transport. Stadteilauto Lüneburg heißt heute cambio Metropolregion Hamburg und hat eine Zukunft vor sich. Das Atommüllendlager nicht.“

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Gorleben und der Biber von Malville

von Dieter Halbach, Bad Belzig

„1977 war mein erster Sommer in Gorleben. Ich hatte bereits in Brokdorf, Grohnde und Itzehoe demonstriert, hatte mir im Berufsbekleidungsladen, wie so viele andere linke Stadtmenschen, eine Gasmaske, schnittfeste Handschuhe, Werkzeug und einen Helm gekauft und damit an den Bauzäunen der AKWs gerüttelt. Doch alle von uns wußten: Der Endkampf würde in Gorleben stattfinden. Am 22. Februar 1977 hatte der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht verkündet, dass Gorleben der Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ wird. Eine Wiederaufarbeitungsanlage und ein Endlager für Atommüll sollen hier entstehen.

Und jetzt war ich hier. Im Zentrum des Orkans. Es war still. Das verschlafene Dorf Gartow in der Nähe von Gorleben im Wendland, im äußersten östlichen Zipfel der ehemaligen BRD gelegen, ist mein erster Anlaufpunkt. Die Bürgersteige sind sozusagen hochgeklappt, Kurparkatmosphäre ist angesagt, Kleinbürgeridylle. Das revolutionäre Volk begegnet mir dann in der Person des Optikers. Ein etwas rundlicher Mann, unscheinbar und natürlich mit Brille. In seinem kleinen Eckladen stellt er sich mir vor als Herr Kruse. Er ist unser Ansprechpartner von der Bürgerinitiative. Er begrüßt mich wie einen Würdenträger, denn „wir gehören ja nun zur gemeinsamen Sache“. Meine langen Haare und meine schmuddelige Lederjacke schienen dem nicht entgegenzustehen. Es ist diese herzliche Begegnung mit der Normalität, die bis heute mein Herz erwärmt, die Gorleben für mich zur Heimat, ja zum Zuhause meiner Utopie machen sollte...“
(.... die Geschichte geht noch viel weiter)

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Meine Schulstunde vom Februar 1977

von Gertrud Schilling

„Als ich in den Nachrichten hörte, dass Gorleben als Standort ausgesucht worden war, schockierte mich das zutiefst. Als Mitglied der Ökologie-und Anti-AKW-Bewegung wollte und mußte ich an diesem Tag ein Zeichen setzen. Damals war ich Lehrerin (28 Jahre) an einer Hauptschule im hessischen Main-Kinzig-Kreis und überlegte heulend auf der Fahrt zur Schule, wie ich diese Nachricht meinen SchülerInnen der 6. oder 7. Klasse so vermitteln könnte, dass sie einigermaßen die Schwere dieser üblen Nachricht verstehen würden.
 
Ich hatte zuvor schon oftmals im Unterricht über die Folgen der Atomenergie für Mensch und Natur aufgeklärt, sodass ein recht gutes Vorwissen bestand. Ich fasste dann folgenden Plan:

  • Information der Kinder über diese Nachricht und Gespräch/Diskussion dazu
  • Herausarbeiten des Schwachsinns, der Gefahren und der Unglaublichkeit dieses Vorhabens
  • Relativ unvermittelt kündigte ich dann eine Klassenarbeit an: Diktat (der Text ergab sich aus der vorangegangenen Diskussion). Die SchülerInnen waren etwas geschockt, machten aber gut mit. Nach dem Einsammeln der Hefte erläuterte ich die plötzliche Arbeit und kündigte an, dass alle eine 1 dafür bekommen, und zwar ohne Kontrolle der Fehler - ungläubiges Staunen. Dann erklärte ich, dass diese Arbeit und diese Benotung genauso bescheuert und unglaublich sei wie diese Entscheidung zu Gorleben. Das verstanden die Kinder. Anschließend durfte jedes Kind bei der Notengebung + Unterschrift der jew. eigenen Arbeit zusehen.
  • Abschließend schrieb ich eine kurze Erklärung an die Tafel (die ich zuvor mit den Kindern erarbeitete), die die Kinder unter die Note abschrieben: ...unkorrigierte Arbeit mit 1 benotet, um deutlich zu machen, wie unsinnig dieses Atomprogramm u. die Entscheidung für Gorleben ist...

Es gab später zwar einige Rückfragen von Eltern bzw. des Rektors, was weiter keine Auswirkungen hatte. Dies war aber der Beginn einer 6-jährigen Hetzjagd, von Verleumdungen und Beschuldigungen gegen mich von Seiten der Schulbehörden, gipfelnd in illegalen jährlichen Versetzungen. Eltern und Kinder setzten sich immer für mich ein, was aber sonst niemanden interessierte.
 
Ich denke heute noch öfters an diese Schulstunde und hoffe, dass sie auch einigen SchülerInnen, Eltern und der Administration im Gedächtnis geblieben ist - insbesondere nach Tschernobyl und Fukushima.“

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Seitenwechsel

von einem Polizeibeamten, "Vater und Mitmensch, der vorausschaut" aus Erfurt / Thüringen

„Auch ich werde nächstes Jahr 40 Jahre alt und war schon mehrfach dienstlich als Polizeibeamter (Einsatzkraft) in und um Gorleben / Wendland. Hierbei habe ich mich für den Rechtsstaat eingesetzt, um Straftaten zu verhindern. Nichtsdestotrotz stand ich währenddessen den AKWs samt ihrer strahlenden Hinterlassenschaft konträr gegenüber. Am Tag X, dem 6. November 2010, nahm ich letztlich als Bürger protestierend an der Anti-Atom-Demo in Dannenberg teil und war Teil des Beginns der Umsetzung vom Atomausstieg.

Ich kann nur hoffen, dass es nicht weitere 40 Jahre andauert, bis das letzte AKW keinen Giftmüll mehr verursacht und ein so-sicher-wie-nur-möglich-Ort dafür gefunden ist.“

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Die Barrikade

von Gerhard Breidenstein

„Einer der Grundsätze der Freien Republik war strikte Gewaltlosigkeit, was keineswegs selbstverständlich war. Denn noch wenige Monate zuvor hatte es bei den AKWs Brokdorf und Grohnde ausgesprochene „Schlachten“ mit der Polizei gegeben. Doch was heißt „Gewaltlosigkeit“? Darüber gab es zunehmend heftige Diskussionen. Dann entstand folgender Konflikt: Eine Gruppe von „militanten“ Atomkraft-Gegnern errichtete einen Graben und eine Barrikade auf der Waldschneise, auf der im Fall der Räumung die Polizei-Autos kommen mussten. Das schien eindeutig gewaltlos. Aber der Bürgermeister des Dorfes Gorleben, dessen Unterstützung für uns wichtig war, forderte den Abbau dieses Hindernisses. Der Sprecherrat beschloss deshalb einmütig den Rückbau. Das aber lehnte die Barrikaden-Gruppe heftig ab und bestritt gleichzeitig die Autorität des Sprecherrates. Eine Vollversammlung wurde ins große Zelt einberufen. Die Stimmung unter den etwa 500 Anwesenden war angespannt! Als erstes wurde abgelehnt, eine Diskussionsleitung zu wählen. Alles schrie gereizt durcheinander. Chaos brach aus. Ich dachte: Das ist – so kurz vor der Räumung – das Ende! Aber die Situation beruhigte sich allmählich, man konnte wieder Argumente hören, Vorschläge machen. Schließlich ergab sich tatsächlich der Kompromiss, dass die Barrikade zwar abgebaut würde, dass das aber nicht die Erbauer selbst machen müssten. Die ihrerseits tolerierten die Entscheidung.

Es bleibt mir unvergesslich, wie aus dieser ungesteuerten Versammlung ein Konsens entstehen konnte!“

weiterlesen:

23.03.2017 - Mein "Gorleben-Moment" – Teil 1/5

29.03.2017 - Mein "Gorleben-Moment" – Teil 2/5

12.04.2017 - Mein "Gorleben-Moment" – Teil 3/5

Gorleben - Salzstock voller Macken
Hintergrund und Analyse

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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