Fragen und Antworten
zu den ungeklärten Oxidschicht-Bildungen an Brennstäben im AKW Brokdorf
Aktualisierte Fassung vom 21.7.2017
Am 19. Februar 2017 erreicht die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein eine Meldung aus dem AKW Brokdorf mit dem Vermerk „EILT“: Eon/PreussenElektra hat bei der jährlichen Revision des Meilers ungewöhnlich dicke Oxidschicht-Bildungen – sprich: Korrosion – an mehreren Brennstäben festgestellt. Das ist aus Sicherheitsgründen nicht zulässig – und ein Hinweis darauf, dass im Reaktorkern unbekannte und unerwartete Reaktionen stattfinden.
AKW gegen alle Versprechen wieder am Netz
Am 14. Juli 2017 erteilt Robert Habeck die Genehmigung für eine erneute Beladung des Reaktorkerns. Die Atomaufsicht habe mittels „akribischer Detektivarbeit“ ein „Ursachenbündel“ identifiziert. Unter der Bedingung, dass Eon das AKW nur mit 95 Prozent seiner Maximalleistung betreibe, die bisher zulässige Maximalgeschwindigkeit beim Herauf- und Herunterregeln halbiere und die Wasserstoffkonzentration im Primärkühlkreislauf erhöhe, dürfe der Reaktor wieder in Betrieb gehen. Unter diesen Bedingungen, glaubt Habeck, sei eine erneute Grenzwertüberschreitung bei der Oxidation der Brennstäbe nicht zu erwarten. Ob dies wirklich so ist, soll bei der nächsten Revision – also voraussichtlich in einem Jahr – mit Messungen überprüft werden.
Die betroffenen Brennstäbe im AKW Brokdorf weisen erhebliche Korrosionsschäden auf. Auf den Brennstabhüllen, die den radioaktiven Brennstoff ummanteln, haben sich dicke Oxidschichten abgelagert. Zulässige Grenzwerte sind deutlich überschritten, und zwar selbst bei Brennstäben, die erst ein oder zwei der üblichen vier bis fünf Jahre im Reaktorkern im Einsatz waren. Im AKW Brokdorf sind die Brennstäbe an einigen Stellen also im Turbogang korrodiert. Die Ursache für diese Vorgänge im Kern des Reaktors ist weiter unklar, sowohl die Atomaufsicht als auch Eon haben nur Mutmaßungen, die sich zudem noch unterscheiden.
Im Reaktordruckbehälter des AKW Brokdorf befinden sich 193 Brennelemente mit jeweils 263 Brennstäben. Die schleswig-holsteinische Atomaufsicht gibt an, dass ausschließlich Brennstabhüllrohre der Materialbezeichnung M5 Schäden durch eine verstärkte Oxidation aufweisen. Insgesamt wurden 92 M5-Brennelemente untersucht und dabei 5.405 der 24.196 darin enthaltenen Brennstäbe vermessen. 464 Brennstäbe wiesen einen höheren als zu erwartenden Oxidbefund auf. Bei 10 Brennstäben war der Grenzwert für Oxidschichtdicken von 100 Mikrometer – das entspricht einem Siebtel der Hüllrohrdicke – überschritten. Eon gibt an, dass die bislang festgestellten Korrosionsschäden ausschließlich am oberen Ende der Brennstäbe auftraten.
Brennstabhüllrohre bestehen aus Zirkaloy, einer sehr korrosionsbeständigen Metalllegierung. Unter den extremen Bedingungen im Reaktorkern finden dennoch Korrosionsprozesse statt, im Normalfall allerdings sehr langsam. Um die Stabilität und Dichtheit der Brennstäbe nicht zu gefährden, darf die Oxidschicht an der Oberfläche der Brennstabhüllrohre maximal 0,1 Millimeter dick sein. Dieser Grenzwert wird üblicherweise selbst bei fünfjährigem Einsatz eines Brennelements nicht erreicht. Im AKW Brokdorf ist er bei mehreren Brennstäben, die nicht mal zwei Jahre im Einsatz waren, schon deutlich überschritten. In einem Fall beträgt der gemessene Wert sogar 0,15 Millimeter. Ab einer Oxidschichtdicke von 0,16 Millimeter ist nicht mehr gewährleistet, dass die Brennstabhülle dicht bleibt; hochradioaktive Spaltprodukte könnten dann den Kühlkreislauf des Reaktors kontaminieren.
Die Brennstabhülle ist eine der Barrieren gegen den Austritt radioaktiver Substanzen aus dem Reaktor. Bei zu starker Korrosion kann sie versagen, insbesondere wenn, etwa bei einem Störfall, die Brennstäbe noch höheren Belastungen als im Normalbetrieb ausgesetzt sind.
Darüber hinaus sind die unerwartet starken Oxidschichtbildungen auf den Brennstabhüllen aber auch ein Symptom eines unbekannten Problems im Inneren des Reaktors. Sowohl das Problem selbst als auch seine Ursache sind bis heute ungeklärt. „Besorgniserregend ist vor allem, dass die Prozesse im Reaktorkern offensichtlich anders ablaufen als erwartet“, hat auch der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck (Grüne) erkannt.
Dass niemand weiß, was warum passiert – so etwas darf es in einer Hochrisikoanlage wie einem AKW nicht geben! Denn aus unberechenbaren und unerklärten Vorgängen können unerwartete Gefahren erwachsen und unkontrollierbare Situationen entstehen. Unter solchen Voraussetzungen darf ein Atomkraftwerk erst recht nicht in Betrieb gehen.
Das für die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein zuständige Umweltministerium hat die Bundesatomaufsicht über die Situation im AKW Brokdorf informiert. Aufgrund der ungeklärten Brennstabkorrosion liegt der Reaktor, der eigentlich nur bis zum 24. Februar 2017 in Revision sein sollte, bis heute still. Die Atomaufsicht hat den Brennelementehersteller sowie Sachverständige zur Klärung der Vorgänge im Reaktorkern hinzugezogen. „Für die Zukunft muss ausgeschlossen sein, dass sich erneut Oxidschichten bilden, die den Grenzwert überschreiten. Dafür ist ein Verständnis von den Ursachen der Oxidation erforderlich“, sagte der Leiter der Atomaufsicht in Kiel, Jan Backmann. Umweltminister Habeck schloss ein Wiederanfahren des Atomkraftwerks ohne eindeutige Untersuchungsergebnisse aus: „Erst, wenn die Ursache geklärt und ausgeschlossen ist, dass sich das Problem an anderen Brennstäben wiederholt, kommt ein Wiederanfahren des Kernkraftwerks in Betracht.“
Dennoch genehmigt Habeck am 14. Juli 2017 eine erneute Beladung des Reaktorkerns. Die Atomaufsicht habe mittels „akribischer Detektivarbeit“ ein „Ursachenbündel“ identifiziert. Verantwortlich für die starken Korrosionsschäden soll demnach ein Zusammenspiel aus der ab 2006 erhöhten Reaktorleistung und dem insbesondere ab 2015 häufigeren und intensiveren Herauf- und Herunterregeln der Reaktorleistung zur Anpassung an die Netzlast („Lastfolgebetrieb“) sein. Unter der Bedingung, dass Eon das AKW nur mit 95 Prozent seiner Maximalleistung betreibe, die bisher zulässige Maximalgeschwindigkeit beim Herauf- und Herunterregeln halbiere und die Wasserstoffkonzentration im Primärkühlkreislauf erhöhe, dürfe der Reaktor demnächst wieder in Betrieb gehen. Unter diesen Bedingungen, glaubt Habeck, sei eine erneute Grenzwertüberschreitung bei der Oxidation der Brennstäbe nicht zu erwarten. Ob dies wirklich so ist, soll bei der nächsten Revision – also voraussichtlich in einem Jahr – mit Messungen überprüft werden.
Das ist durchaus möglich und war in der Vergangenheit auch schon der Fall. So tauchten 2005 und 2012 im AKW Philippsburg‑2 ähnliche, aber nicht so starke Korrosionen an Brennstäben auf. Auch an Brennstäben im AKW Grohnde, wie Brokdorf und Philippsburg‑2 ein Reaktor vom Typ „Vor-Konvoi“, fanden Sachverständige bei Untersuchungen im April 2017 Korrosionsspuren. Die zulässige Oxidschichtdicke war dort zwar noch nicht überschritten. Um die Sicherheitsmargen zu erhöhen, erklärte sich Eon jedoch bereit, die maximale Leistung des Reaktors im kommenden Zyklus auf 95 Prozent zu begrenzen – so wie es die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein nun auch beim AKW Brokdorf verlangt.
Infolge der Grenzwertüberschreitungen im AKW Brokdorf ließ das Bundesumweltministerium die Gesellschaft für Anlagen-und Reaktorsicherheit (GRS) eine Weiterleitungsnachricht an alle AKW-Betreiber herausgeben. Die Ursachensuche in Brokdorf, teilte das Ministerium mit, verfolge man „aufmerksam“.
Im AKW Leibstadt wurden während der jährlichen Revision im August 2016 ebenfalls zahlreiche korrodierte Brennstäbe entdeckt. Verantwortlich für die gravierende Korrosion an den Brennstabhüllen dort sind nach Angaben der Schweizer Atomaufsicht (ENSI) sogenannte „Dryouts“: Bestimmte Stellen im Reaktorkern werden so heiß, dass die Brennstäbe dort nicht mehr mit einem Wasserfilm bedeckt sind, weswegen sie stark korrodieren. Wie und warum es zu diesen Dryouts kommen konnte, die eigentlich nicht auftreten dürfen, ist jedoch noch unklar.
In 47 von 648 Brennelementen des Siedewasserreaktors weisen nach Angaben des Betreibers jeweils „einige“ Brennstabhüllen Verfärbungen auf. In 15 stärker betroffenen Brennelementen sind insgesamt 30 Brennstäbe massiv beschädigt. Was genau ein „massiver“ Brennstabschaden ist, erläutern weder der Betreiber noch die Atomaufsicht. Die Inspektion hat bislang ergeben, dass ausschließlich Brennstäbe, die seit einem Jahr im Einsatz sind, von den starken Oxidablagerungen betroffen sind. Die Korrosionsstellen sind bis zu 25 Zentimeter lang und befinden sich jeweils am oberen Ende der betroffenen Brennstäbe.
In beiden AKW ist eine wichtige Barriere gegen Radioaktivität, die Brennstabhülle, beschädigt worden. Die Schäden sind relativ zeitgleich aufgetaucht. Da es sich um unterschiedliche Reaktortypen handelt, ist es dennoch eher unwahrscheinlich, dass die Schadensursache identisch ist. Bei der Brennstabkorrosion im AKW Leibstadt, einem Siedewasserreaktor, handelt es sich um einen Dryout-Effekt (lokale Überhitzung – Kühlwasser verdampft dort zu stark – Korrosion). In einem Druckwasserreaktor wie dem AKW Brokdorf ist der Druck im Reaktorkern deutlich größer. Das Kühlwasser würde daher erst bei höheren Temperaturen verdampfen, weswegen Dryouts hier eher unwahrscheinlich sind.
In beiden Fällen ist die Brennstabkorrosion allerdings auf Vorgänge im Reaktorkern zurückzuführen, die niemand erwartet und niemand vorhergesehen hat. Derlei unbekannte und unberechenbare physikalische Mechanismen sind in einem AKW absolut inakzeptabel.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) hat ein Wiederanfahren des AKW Leibstadt zunächst untersagt und die Brennstabschäden analysiert – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg: Die Ursache der Dryouts, die zu den starken Korrosionen führten, ist bis heute ungeklärt. Trotzdem genehmigt die Behörde am 16. Februar 2017, nach sechsmonatigem Stillstand, das Wiederanfahren des Atomkraftwerks mit leicht geminderter Leistung – diese Auflage soll erneute Dryouts verhindern. Die stark beschädigten Brennstäbe hat der Betreiber gegen Dummy-Stäbe ohne Uran ausgetauscht. Er hat also lediglich den Schaden beseitigt, nicht die Ursache.
Bürgerinitiativen, Umweltverbände und Politiker*innen protestieren dagegen, dass das AKW trotz ungeklärter Vorgänge im Reaktorkern wieder ans Netz darf. Der für die Atomaufsicht im benachbarten Baden-Württemberg zuständige Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) kann die Entscheidung der Schweizer Behörde nicht nachvollziehen: „(…) die Frage einer ausreichenden Sicherheitskultur stellt sich schon, wenn physikalische Vorgänge im Reaktorkern nicht vollständig bekannt sind und der Weiterbetrieb dennoch zugelassen wird.“ Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD), parlamentarische Staatsekretärin im Bundesumweltministerium (BMUB), unterstreicht: „Es ist aus Sicht des BMUB von großer Bedeutung, die Ursachen für die Schäden an den Hüllrohren restlos aufzuklären.“ Und die atompolitische Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, kritisiert: „Immer noch ist die genaue Ursache für die erhöhte Oxidation ungeklärt. Solange das der Fall ist, darf das AKW nicht wieder ans Netz gehen – auch nicht mit neuen Brennelementen.“
Nein. Nach wie vor ist nicht klar, welche Vorgänge im Inneren des Reaktors derart starke Oxidationsprozesse an den Brennstäben in Gang setzen. Wenn die schleswig-holsteinische Atomaufsicht die Reaktorleistung und -fahrweise als Ursache für die Korrosionsschäden hinstellt, ist das Spekulation und kein abgesichertes Wissen. Auch Eon ist bisher von anderen Ursachen ausgegangen. Das Ministerium räumt ein: „Noch nicht schlüssig, abdeckend und widerspruchsfrei sind die chemischen und physikalischen Einzelparameter […] und ihr quantitativer Beitrag zu dem Prozess geklärt.“ Trotzdem suggeriert es der Öffentlichkeit, der Betrieb des Reaktors sei „sicher“, wenn dessen Leistung um fünf Prozent reduziert und die maximal zulässige Lastwechselgeschwindigkeit halbiert werde. Dieses Sicherheitsversprechen beruht allein darauf, dass die verordnete Reaktorfahrweise dem Modus von 2006 entspricht und seinerzeit keine vergleichbaren Korrosionsschäden an Brennstäben des gleichen Materials festgestellt wurden.
Es ist unstrittig, dass der Lastwechselbetrieb ein zusätzliches Sicherheitsrisiko darstellt und Materialschäden hervorruft. Diese – zumal nicht neue – Erkenntnis ersetzt aber nicht eine validierte Klärung der Gegebenheiten im AKW Brokdorf – genau das hatte Habeck jedoch im März versprochen. „Besorgniserregend ist vor allem, dass die Prozesse im Reaktorkern offensichtlich anders ablaufen als erwartet“, kritisierte er damals. Die thermohydraulischen, radiologischen und chemischen Vorgänge im Reaktorkern des AKW Brokdorf sind nach wie vor ungeklärt. Die Entscheidung der schleswig-holsteinischen Atomaufsicht, unter diesen Bedingungen das Beladen des Reaktors zu genehmigen und Eon voraussichtlich noch im Juli die Erlaubnis zum Wiederanfahren erteilen zu wollen, ist verantwortungslos und waghalsig.
aktualisierte Fassung vom 21. Juli 2017
Was fordert .ausgestrahlt?
Eon und die schleswig-holsteinische Atomaufsicht müssen die Ursachen für die unerwartet starken Oxidschicht-Bildungen auf den Brennstäben im AKW Brokdorf eindeutig klären.
Ein AKW, bei dem auch nur die Möglichkeit besteht, dass es im Reaktorkern zu unbekannten oder unerwarteten Reaktionen kommt, die sogar Brennstäbe beschädigen können, darf nicht wieder ans Netz gehen!
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