Der Präsident der baden-württembergische Landesärztekammer erklärte kürzlich: Abbruchmaterial aus Atomkraftwerken mit einer Strahlenbelastung unter zehn Mikrosievert ist ungefährlich. Auch Umweltminister Untersteller erachtet das Freigabeverfahren für „sinnvoll“ und hebt den Anlieferungsstopp für Bauschuttdeponien auf. Atomkraftgegner*innen widersprechen und kündigen weitere Proteste an.
Große Mengen Bauschutt aus dem Abriss der Atomkraftwerke sollen auf konventionellen Deponien gelagert werden. Das Material strahlt – aber nur gering. In der Vergangenheit gab es immer wieder Streit um die Frage, wie hoch die Strahlenbelastung für Arbeiter*innen in Atomanlagen oder Anwohner*innen von zum Beispiel Deponien sein darf, um gesundheitliche Auswirkungen auszuschließen. International geltende Bewertungen, auf die sich auch die deutschen Richtlinien berufen, sind seit Jahren unter Fachleuten in der Kritik. Weil Erkrankungen erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Strahlenexposition auftreten können, ist vielfach ein direkter Zusammenhang sehr schwer zu beweisen. Was Wissenschaftler*innen und Ärzte auch betonen: Das Erkrankungsrisiko durch geringe Bestrahlung über einen langen Zeitraum ist nicht zu vernachlässigen.
Beim Abbau eines Atomkraftwerks müssen tausende Tonnen Material „entsorgt“ werden. Die Intensität der Strahlung entscheidet über die Verbringung in ein Atommülllager – oder wesentlich kostengünstiger auf konventionelle Bauschuttdeponien. Damit hat die Festlegung dieses Freigabe-Grenzwertes für die AKW-Betreiber eine wesentliche wirtschaftliche Bedeutung.
Landesärztekammer ändert Meinung zu AKW-Bauschutt
Im Zusammenhang mit dem Reaktor-Abriss an den Standorten Obrigheim, Philippsburg, Karlsruhe und Neckarwestheim sprach sich Ende November 2016 die Vertreterversammlung der Landesärztekammer Baden-Württemberg in einer Entschließung gegen das geltende Verfahren zur Freimessung aus. Die Delegierten warnten vor der „Verharmlosung möglicher Strahlenschäden durch die geplante Verteilung von gering radioaktivem AKW-Rest-Müll“. Die Landesregierung solle sich dafür einsetzen, dass auch der gering strahlende Müll auf den Kraftwerksgeländen gelagert werde, bis „definitive und gesundheitlich zu verantwortende Lösungen der Endlagerung gefunden sind“.
Der Präsident der Landesärztekammer, Dr. Ulrich Clever, erklärte dagegen am 15. Januar: Das 10-Mikro-Sievert-Konzept gewährleiste den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Das Verfahren entspreche des heutigen Standes von Wissenschaft und Technik und es scheine „gesundheitlich verantwortbar“ zu sein. Er fügt allerdings hinzu: „Wir als Ärztinnen und Ärzte wissen, dass es keine unschädliche ionisierende Strahlung gibt.“
Clever unterstützt damit die Aufhebung des Moratoriums, AKW-Bauschutt auf Deponien zu verbringen. Ebenfalls mit Verweis auf das 10-Mikro-Sievert-Konzept hatte Ministerpräsident Untersteller im November grünes Licht für die Anlieferung tausender Tonnen schwach-strahlenden Materials aud Bauschuttdeponien gegeben. Am 15. Januar unterstreichte Untersteller sogar: Im Vergleich zu der ohnehin vorhandenen terrestrische und kosmische Strahlung sowie medizinische Behandlungen sei die Exposition durch den AKW-Müll „vernachlässigbar“.
Atomkraftgegner*innen sind empört
Gener*innen dieses Verfahrens widersprechen der Meinung von Minister Untersteller und Ärztekammerpräsident Dr. Clever.
Der Landeschef sei nach §6 der Strahlenschutzverordnung verpflichtet, jede unnötige Strahlenexposition zu vermeiden und jede Strahlenexposition von Mensch und Umwelt auch unterhalb der Grenzwerte so gering wie möglich zu halten. Untersteller weigere sich aber, über „zeitgemäße Handlungsoptionen“ wie etwa die Verwahrung des Atommülls im Reaktorgebäude oder in einem Bunker nachzudenken.
„Menschen zusätzlicher Strahlung in ihrer Alltagsumgebung auszusetzen, ohne sie zu fragen, ohne sie zu informieren, ist ein Skandal. Eine Kostenersparnis für die EnBW ist dafür keine Rechtfertigung. Deshalb empört es uns, wenn der Atomminister Vergleiche zwischen medizinischer Strahlung und der Strahlung aus AKW-Schutt anstellt”, so Franz Wagner von der „Arbeitsgemeinschaft Atomerbe Neckarwestheim“.
Das 10-Mikro-Sievert-Konzept bedeute eine „unnötige zusätzliche Strahlenbelastung und damit eine vermeidbare Gesundheitsgefährdung“. Es sei ein „Dammbruch für Baden-Württemberg“, sollten tatsächlich wieder LKW-Transporte rollen, so der Schwieberdinger Mediziner und Sprecher der Bürgerinitiative „Froschgraben-freigemessen“, Dierk-Christian Vogt. Gut 3.300 Tonnen Abbruchmaterial aus dem Meiler Neckarwestheim soll auf den Deponien Schwieberdingen und Vaihingen-Horrheim landen.
Demonstration am 21. Januar in Buchen
Am kommenden Samstag (21. Januar) haben Aktivist*innen erneute Proteste angekündigt. In Buchen vor dem Alte Rathaus in der Fußgängerzone findet ab 11 Uhr eine Demonstration gegen die Deponierung des Mülls aus dem Atomkraftwerk in Obrigheim auf der dortigen Deponie Sansenhecken statt.
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Quelle (Auszug): froschgraben-freigemessen.de, lkz.de, um.baden-wuerttemberg.de, atomerbe-neckarwestheim.de; 15./17.1.2017