Die französische Atomaufsicht hat die Zwangsabschaltung von fünf Atomreaktoren angeordnet. Innerhalb von drei Monaten muss die Funktionstüchtigkeit mehrerer Dampferzeuger kontrolliert werden. Laut eines Gutachtens gibt es weitere gravierende Probleme wegen mangelhaften Materials in zahlreichen Reaktoren.
In Unterlagen des französischen Konzerns Areva sind „Unregelmäßigkeiten“ gefunden worden, die auf ein Sicherheitsrisiko hinweisen. Möglicherweise seien die für die Kühlung nötigen Bauteile nicht so stabil wie gefordert, um den hohen Materialbelastungen standzuhalten, berichtete die Atomaufsicht ASN Mitte vergangener Woche. Betroffen von diesen neuen Vorwürfen sind insgesamt fünf Reaktoren, darunter auch das älteste AKW im Land, Fessenheim, sowie Civeaux 1 im westfranzösischen Département Vienne, ein Reaktor im nordfranzösischen Gravelines sowie zwei weitere im südostfranzösischen Kraftwerk Tricastin.
Wegen der aktuellen Vorwürfe sollen die fünf betroffenen Reaktoren nach Angaben des Betreibers EDF spätestens im November oder Dezember für drei bis vier Wochen abgeschaltet und genauer untersucht werden. Bereits im Juni hatte die Aufsichtsbehörde Untersuchungen bei insgesamt 18 Reaktoren angeordnet.
Akute Gefahr für Millionen Europäer
Die aktuelle Anordnung der Atomaufsicht ist offenbar eine erste Reaktion auf ein Gutachten von Greenpeace, das Ende September veröffentlicht wurde. Im Auftrag der NGO hatte das Londoner Ingenieurbüro John Large bereits bekannte Mängel an den Dampfgeneratoren und anderen großen Aggregaten aus der Stahlschmiede Creusot Forge näher untersucht und war zu einem alarmierenden Ergebnis gekommen: In 55 Prozent aller französischen Atomreaktoren droht ein massiver Störfall, verursacht durch fehlerhafte Bauteile.
Der verwendete Stahl weist nach Ansicht der Fachleute eine zu hohe Kohlenstoffkonzentration auf, die bei starker Beanspruchung zu einem Bersten des Materials führen kann. Bei insgesamt 107 Bauteilen an 14 französischen AKW-Standorten sind diese gravierenden Probleme mit mangelhaftem Stahl gefunden worden. Bei 19 Reaktoren wurden diese Kohlenstoff-Anomalien an den Dampferzeugern festgestellt. Bei 18 Reaktoren droht auch nach Ansicht der französischen Sachverständigenorganisation Institut de Radioprotection et de Surete Nucleaire (IRSN) ein „akutes Versagen“ bis hin zur Kernschmelze.
„Die französische Atomaufsicht muss sofort handeln und die betroffenen Meiler vom Netz nehmen“, sagt Greenpeace-Atomexpertin Susanne Neubronner. „Frankreichs AKW sind eine akute Gefahr für Millionen Europäer.“
Die derzeitigen Untersuchungsmethoden des Atomanlagenbauers Areva und des AKW-Betreibers EDF seien „bei weitem nicht ausreichend, um einen sicheren Weiterbetrieb zu garantieren“, so Greenpeace. Die einzig mögliche Lösung ist der Austausch der betreffenden Dampfgeneratoren durch Bauteile eines anderen Herstellers. Der Nachrichtenagentur AFP zufolge will Areva nun weit mehr Unterlagen überprüfen, als bisher geplant war.
Grenznahe Atomkraftwerke betroffen
Von den Materialproblemen ist auch das grenznahe Atomkraftwerk Cattenom betroffen. Block 3 ist bereits seit dem 24. September wegen einer Teilüberprüfung abgeschaltet. Vor zwei Wochen ereignete sich in der Anlage zudem ein Störfall, Block 4 wurde nach Problemen mit dem Stromnetz automatisch abgeschaltet, der Notstromdiesel musste die Versorgung übernehmen.
Im Juni hatte die Atomaufsicht das Prüfzertifikat für einen Dampfgenerator im AKW Fessenheim Block 2 aufgehoben, was zur bis heute andauernden Zwangsabschaltung führte. Nun ist auch Block 1 von den Vorwürfen betroffen und muss vom Netz.
„Jetzt werden beide Blöcke heruntergefahren und jeder wird feststellen können, dass wir das AKW nicht brauchen, dass wir auch ohne Fessenheim nicht mit Kerzen beleuchten müssen“, so Aline Baumann vom Verein „Stop Fessenheim“. Staatspräsident François Hollande solle diese „Pause“ zum Anlass nehmen, das AKW noch in diesem Jahr endgültig zu schließen.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kündigte unterdessen wegen der Materialprobleme im AKW Fessenheim eine Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft in Paris an. Der Betreiber EdF und der Konzern Areva hätten von den Problemen gewusst und diese verschwiegen, so Greenpeace.
AKW-Stillstände treiben Strompreis hoch
Zur Zeit steht fast die Hälfte aller Atomreaktoren in Frankreich wegen Wartungsarbeiten still: 23 der 58 Meiler waren vergangene Woche vom Netz, berichtet der Energiekonzern Alpiq aus der Schweiz. Das Land ist von der hohen Stillstandsquote betroffen, der Strompreis zur kurzfristigen Lieferung ist dort binnen eines Monats um rund die Hälfte gestiegen. Im September sei der Preis am Spotmarkt für ein Megawatt Strom noch bei 40 Euro gelegen, heute würden 60 bis 70 Euro dafür bezahlt, so eine Alpiq-Mediensprecherin.
Nein zum EPR Flamanville!
Anfang des Monats hatten mehrere tausend Menschen gegen ein neues Atomkraftwerk in Flamanville am Ärmelkanal und für den Atomausstieg in Frankreich protestiert und forderten u.a.: „Nein zur Flickschusterei an den Reaktoren!“
zum Film: Demonstration in Flamanville, 1. Okt. 2016
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Quellen (Auszug): kleinezeitung.at, spiegel.de, AFP, dpa, tagesschau.de, handelszeitung.ch, tagesspiegel.de, sr.de, saarbruecker-zeitung.de; 19.09./01./12./17./19./20.10.2016