Die von heftigen Protesten begleiteten Castor-Transporte in das Zwischenlager Gorleben gehören dank des „Neustarts“ der Suche nach einem Atommülllager erstmal der Geschichte an. Fünf Jahre nach der letzten Fuhre befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dem damaligen „Gipfel der Polizei-Willkür“ und gab dem wegen Freiheitsentziehung klagenden Atomkraftgegner Recht.
Auch wenn sich sich DemonstrantInnen rechtswidrig an einer Schienenblockade beteiligen, darf die Polizei die AktivistInnen nicht ohne Einschalten eines Richters in Gewahrsam nehmen, urteilte vergangene Woche das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe als letzte Instanz der Rechtsprechung.
Im Zuge der Anlieferung von elf Atommüll-Behältern im November 2011 hatten rund 5.000 Menschen im wendländischen Harlingen die Gleise blockiert. Nur ein Teil war der Aufforderung durch die Polizei gefolgt, sich von den Gleisen zu entfernen. 1.346 DemonstrantInnen wurden von der Polizei von der Schiene getragen und in Gewahrsam genommen. Dafür wurde auf einem nahen Acker eine „Freiluft“–Gefangenensammelstelle installiert, ein Rondel aus Polizeiwagen und PolizistInnen. Was bei dieser Massen-Ingewahrsamnahme auf Grundlage der Gefahrenabwehr fehlte, war ein richterlicher Beschluss. Die Unrechtmäßigkeit der Polizeiaktion wurde noch während des Kessels vom Amtsgericht Dannenberg bestätigt. Alle zu diesem Zeitpunkt im Kessel befindlichen Personen hätten unverzüglich einem Richter vorgeführt werden müssen - dies setzte die Polizei aber nur bei 28 Personen um. Der Aufforderung, die Gefangenen umgehend freizulassen, kam die Polizei zunächst nicht nach.
Die AktivistInnen wurden bei winterlichen Temperaturen gute 12 Stunden festgehalten. Erst nach anhaltendem, starken Regen ertönte über den Lautsprecherwagen der Polizei die Mitteilung, dass der Einsatzleiter vor Ort es im Hinblick auf die Gesundheit der Demonstranten „nicht weiter verantworten könne“, die Menschen festzuhalten.
„Gipfel der Polizeiwillkür“
Die Richter wurden nicht tätig, weil die Polizei behauptete, sie „wisse nicht, wo namentlich genannte Gefangene sich aufhielten“. So „verschwanden“ die Gefangenen über Stunden und waren der Willkür der Polizei ausgeliefert, ohne sich wehren zu können, ohne Zugang zu Rechtsschutz, rekonstruiert die Hamburger Rechtsanwältin Ulrike Donat. Der „Harlinger Kessel“ sei beim letzten Castor-Transport der „Gipfel der Polizeiwillkür“ gewesen, so Donat.
Selbst die Vorgehensweise der Polizei, einzelne Demonstranten nach Abgabe ihrer Personalien gehen zu lassen, erklärte das Amtsgericht Dannenberg wiederum für nicht rechtmäßig.
Klagewelle gegen Polizeiwillkür
Die Aktionsgruppe „Widersetzen“, die diese Schienenblockade organisiert hatte, rief schon vor zwei Jahren zu einer „Klagewelle“ gegen dieses „willkürliche Vorgehen“ der Polizei auf. Mit einem wegweisenden Urteil konnte einer der AktionsteilnehmerInnen nun vor dem Bundesverfassungsgericht punkten: Das Landgericht Lüneburg hatte seine Forderung auf Schmerzensgeld abgewiesen, weil er „als Folge für sein rechtswidriges Verhalten keinen Anspruch auf Schmerzensgeld habe“. Karlsruhe urteilte jetzt anders und verwies diesen Fall damit erneut an das Landgericht. Neu aufgerollt werden muss der Fall auch wegen der Frage nach der Höhe des Schmerzensgeldes, das den Betroffenen zusteht. (AZ: 1 BvR 171/15)
„Wieder einmal musste erst ein Gang vor das Bundesverfassungsgericht erfolgen, damit die polizeiliche Willkür bei Castor-Transporten dokumentiert wird“, kommentiert die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. (BI) das Urteil, welches den Kläger „aber auch uns alle mit Genugtuung“ erfülle. Jedoch: „Wir erinnern keinen Fall, wo es dienstrechtliche Konsequenzen gehabt hat“, so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Man müsse sogar davon ausgehen, dass der Rechtsbruch durch die Polizei eingeplant war, um den Castortransport abzuwickeln.
Ulrike Donat, die seit Jahrzehnten den Atom-Widerstand in Rechtsfragen berät und Prozesse begleitet, erinnert an eine „lange Geschichte von rechtswidrigen polizeilichen Gewahrsamnahmen/Freiheitsentziehungen bei Castor-Transporten“. Seit dem „Karwitzer Kessel“ im Jahr 1996 seien zahlreiche Klagen gegen solche Massengewahrsamnahmen gewonnen worden: Die Freiheitsentziehungen waren jeweils rechtswidrig, zumeist weil die Voraussetzungen nicht vorlagen und weil die Polizei die Eilrichter nicht oder zu spät oder mit falschen Informationen einschaltete, so Donat in einem Kommentar zu dem aktuellen Urteil.
- weitere Informationen: www.widersetzen.de
Quelle (Auszug): bi-luechow-dannenberg.de, widersetzen.de, publixvieing.de; 15.8.2016