Jod statt Strahlentod? NRW kauft hundertausende Tabletten

26.05.2016 | Jan Becker

Weil der Bund seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, hat Nordrhein-Westfalen die Versorgung der Menschen mit Jod für die Vorsorge gegen Krebs nach einer Reaktorkatastrophe selbst in die Hand genommen. Doch weder ist die Verteilung geklärt, noch gibt es eine Antwort darauf, ob diese Massnahme tatsächlich helfen kann.

Bislang gibt es Jodtabletten in Deutschland lediglich in einem 100-Kilometer-Radius rund um Atomkraftwerke und nur für Menschen unter 45 Jahren. Nun sollen in Nordrhein-Westfalen Schwangere, Kinder und Jugendliche die Tabletten für die atomare Notsituation auch darüber hinaus bekommen.

Nach dem Beginn der Katastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 hatte die Strahlenschutz-Kommission (SSK) der Bundesregierung geraten, auch für die „Außenbereiche“ um Atomkraftwerke eine Vorsorge für Atomunfälle zu schaffen. Der GAU habe bewiesen, dass der Radius innerhalb dessen Städte nach einem Unglück betroffen sind, größer ist, als bisher angenommen. Laut SSK müsse ganz Deutschland als sogenannte „Fernzone“ ausgewiesen werden und „alle Schwangeren und Minderjährigen einen schnellen Zugang zu Kaliumjodid-Tabletten bekommen“.

Die Verteilung der Radioaktivität wird massgeblich vom Wetter beeinflusst. 1986, nach dem GAU von Tschernobyl bekam das rund 1.200 Kilometer entfernte Schweden etwa 25 Prozent der freigesetzten Strahlung ab. Beim Unfall von Fukushima wurden Bereiche bis zu 250 Kilometer um die havarierte Anlage evakuiert.

Nordrhein-Westfalen kauft 100.000de Tabletten

Die Stadt Duisburg hat 114.000 Tabletten, Gladbach 133.000 Jodtabletten bestellt. Beide Städte befinden sich in der sogenannten „Außenzone“ (größer 100km) des belgischen Atomkraftwerks Tihange, dass wegen massiver Sicherheitsbedenken die letzten Monate Schlagzeilen machte.

Weil es beim Bund aber keinen Zeitplan für die Umsetzung dieser Empfehlung gibt, hat NRW als bislang einziges Bundesland entschieden, das Medikament auf eigene Kosten zu beschaffen, so eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums. Über die Verteilung werde aber noch diskutiert. Weitere Maßnahmen gibt es für Duisburg, Gladbach und andere Städte, die weiter als 100 Kilometer von einem AKW entfernt sind, nicht.

Angst vor GAU in belgischen AKW nicht Auslöser

Vor gut zwei Jahren waren in den belgischen Meilern Tihange-2 und Doel-3 tausende Risse in den Reaktorbehältern festgestellt worden. Zehntausende Menschen protestierten gegen den Weiterbetrieb der Anlage und selbst die Bundesregierung wies auf diese besorgniserregenden Mängel hin. Doch Belgien weigert sich, die Meiler stillzulegen. In Nordrhein-Westfalen sind deshalb mehrere Städte vor Gericht gezogen, weil sie sich von einem möglichen schweren Unfall in den grenznahen Anlagen bedroht fühlen. Doch laut des NRW-Innenministeriums ist diese Sorge nicht der Anlass für die Beschaffung der Jodtabletten. Die Verteilung der Tabletten basiere auf der überarbeiteten Empfehlung der Strahlenschutzkommission.

In Köln sieht man die Situation anders: Die Millionenstadt liegt etwa 130 Kilometer von Tihange entfernt. Deshalb braucht die Stadt auch keine Katastrophenplanung für den atomaren Ernstfall. Der Gesundheitsausschuss habe das Thema Jodtabletten diskutiert: Es wird keine geben.

„Wichtig ist, dass die Jodtabletten im Ernstfall rechtzeitig und sicher von den Menschen in NRW eingenommen werden können.“ (NRW-Innenminister Ralf Jäger)

Die Berufsfeuerwehr Gladbach erklärt den Plan für die Abgabe im „Ereignisfall“: Bei einem Reaktorunglück werde es „einen Vorabalarm geben”. Dann sollten alle berechtigten Bürger sich ihre Jodtabletten in Apotheken und Krankenhäusern abholen. Alternativ zu diesem Konzept wird aktuell die Verteilung an alle „berechtigten Haushalte“ diskutiert. Dann müssten nur noch die BürgerInnen zu den Verteilstationen eilen, die ihre Tabletten verlegt, verloren oder vergessen haben...

Andere Städte sind zurückhaltender: Es gibt „bislang noch kein Konzept“ für die Verteilung, aber es gebe aber einen „Arbeitskreis, der sich damit beschäftigt", sagte eine Sprecherin der Stadt Duisburg.

Jod gegen Strahlentod?

AKW Brokdorf: Was wäre wenn?
GAU im AKW Brokdorf: Was wäre wenn?

Tritt bei einem Reaktorunfall radioaktives Jod aus, soll die Schilddrüse mithilfe der Tabletten zuvor schon ausreichend mit Jod gefüllt werden, dass sie weniger des radioaktiven Stoffes aus der Luft aufnehmen kann. Damit soll das Risiko einer Krebserkrankung der Schilddrüse - eine der häufigsten Folgen nach einem GAU - reduziert werden, so Wolfgang Müller von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Gegen andere Stoffe, die bei einem Unfall austreten könnten, gibt es allerdings keinen Schutz.

Auch muss die Tablette etwa sechs Stunden vor dem Zeitpunkt eingenommen werden, wenn die mit radioaktiven Jod belastete Luft eingeatmet wird. Es gibt also zwei, nennen wir sie mal „Herausforderungen“: Die BürgerInnen müssen mindestens diese Stunden vor dem Durchzug der radioaktiven Wolke offiziell gewarnt und informiert werden. Bis sechs Stunden vorher müssen zudem die Verteilstationen funktionieren.

Die Geschichte zeigt jedoch, dass die Behörden schwere Atomunfälle eher um Tage als um Stunden vertuschen, anstatt die Bevölkerung rechtzeitig zu informieren.

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Quellen (Auszug): land.nrw, swp.de, rp-online.de, 11./16./17./21./24.5.2016

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Jan Becker

Jan Becker hat jahrelang die Webseite www.contrAtom.de betrieben und täglich aktuelle Beiträge zur Atompolitik verfasst. Seit November 2014 schreibt der studierte Umweltwissenschaftler für .ausgestrahlt. Jan lebt mit seiner Familie im Wendland. Mit dem Protest gegen regelmäßig durch seine Heimatstadt Buchholz i.d.N. rollende Atommülltransporte begann sein Engagement gegen Atomenergie, es folgten die Teilnahme und Organisation zahlreicher Aktionen und Demonstrationen.

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