Alle Atomkraftwerke sind gefährlich, sie beherbergen ein ungeheures Risikopotential. Teilweise selbst dann noch, wenn sie für immer abgeschaltet wurden. Doch die beiden alten Siedewasserreaktoren von Gundremmingen sind laut einer aktuellen Analyse der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) „die gefährlichsten“ unter den letzten acht in Deutschland noch laufenden Meilern.
„Precursor“ (deutsch: Präkursor, Vorboten) stammt aus der Biochemie und bezeichnet ein Molekül, das als Ausgangsprodukt eine Reaktion eingeht. Aus diesem wird, manchmal unter Beteiligung weiterer Präkursoren, ein oft „komplexes und differenziertes Produkt“ gebildet. In der Atomtechnik haben sich Wissenschaftler diese Bezeichnung seit 1993 zu eigen gemacht, um Ereignisverläufe in Reaktoren zu beschreiben, die sich im Extremfall zu einer Kernschmelze hätten entwickeln können.
Die GRS hat solche sogenannte „Precursor-Zwischenfälle“ zwischen 1993 und 2010 ausgewertet. In der Ausgabe des „Spiegel“ vom 12. Dezember wird von einer „aktuellen Analyse“ gesprochen, die jedoch auf der Webseite der GRS nicht zu finden ist. Insgesamt seien in dem genannten Zeitraum 14 solcher Störungen in den zwei Blöcken von Gundremmingen ermittelt worden. Damit führen die Meiler in Bayern die Statistik der letzten deutschen AKW mit Abstand an: In allen anderen sechs habe es insgesamt „nur“ elf solcher Ereignisse gegeben.
Bereits Mitte 2014 hatte es zum Thema „Precursor-Zwischenfälle“ Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegeben (Drucksachen 17/6988 und 18/2108). Aufgeschlüsselt wurden dort Ereignisse in den Jahren 1993 bis einschließlich 2009. In Gundremmingen ist seitdem ein Vorfall hinzu gezählt worden: Am 15. Februar 2010 kam es in Block B zu einem „kurzzeitigen Öffnen eines Druckbegrenzungsventils durch das Reaktorschutzsystem“.
Alles ohne „Sicherheitstechnische Bedeutung“?
Was bei einem Blick auf das genannte Ereignis in 2010 auffällt: Es hatte offiziell „keine oder sehr geringe Sicherheitstechnische Bedeutung“ (= Klassifizierung INES 0) und wurde den Atomaufsichtsbehörden „normal“, also innerhalb von fünf Werktagen, gemeldet. Auch alle anderen meldepflichtigen Ereignisse, die sich laut GRS zu einer Kernschmelze – und damit verbunden auch die mögliche unkontrollierte Freisetzung von hochradioaktiven Material – hätten entwickeln können, waren INES 0, Meldekategorie „Normal“:
- Block B:
26.12.1999: Ausfall der Hauptkondensatpumpen und der Hauptkühlwasserpumpen
15.03.2001: Öffnungsversagen der Fernschaltventilstation einer Sprühwasserlöschanlage bei wiederkehrender Prüfung
11.03.2002: Ausfall der Sprühwasserlöschanlage im Steuerstabantriebsraum
12.05.2003: Reaktorschnellabschaltung und Durchdringungsabschluss der Frischdampfleitungen nach einer Störung in der Speisewasserversorgung
05.06.2003: Funktionsstörung eines Notstromdieselaggregats
25.11.2007: Nicht vorgesehenes Öffnen eines diversitären Druckbegrenzungsventils infolge einer defekten Reaktorschutzbaugruppe
15.02.2010: Kurzzeitigen Öffnen eines Druckbegrenzungsventils durch das Reaktorschutzsystem - Block C:
08.05.1993 – Transiente (Notstromfall) beim Anfahren nach längerem Anlagenstillstand
02.02.2003: Reaktorschnellabschaltung nach Ausfall der Hauptkühlwasserförderung
06.12.2003: Durchdringungsabschluss-Frischdampf durch schnelle Druckabsenkung im RDB
21.01.2007: Reaktorschnellabschaltung bei der Prüfung des Generatorspannungsreglers
23.10.2007: Funktionsstörung an einer Pumpe des nuklearen Zwischenkühlwassersystems
„Eine Gefährdung des Personals, der Umgebung oder der Anlage war mit dem Ereignis nicht verbunden“, „Der sichere Betrieb des Kraftwerks war und ist gewährleistet“, schreiben die Betreiber nach jedem Störfall in ihren Pressemitteilungen.
Ob sich einer dieser genannten Vorfälle zu einer Kernschmelze entwickelt hätte, gibt die GRS mit einer Wahrscheinlichkeit an. Diese Rechengröße ist aber so absurd klein, dass die Entwicklung des eigentlichen Ereignisses dorthin eigentlich ausgeschlossen wird. Der weltweite Lobbyverband Internationale Atomenergie Organisation (IAEO) errechnet das Risiko eines Unfalls mit Reaktorschaden für den (im Vergleich mit Gundremmingen „modernen“) Europäischen Druckwasserreaktor mit ca. 1 pro 1.000.000 Betriebsjahre. Also praktisch gar nicht, und Harrisburgh, Tschernobyl oder Fukushima hätte es rechnerisch nicht geben dürfen. Diese Wahrscheinlichkeitsrechnung dient also allein zur Beruhigung.
Den Aussagen der Betreiber, die Einstufungen in die offiziellen Meldekategorien oder auch der Verweis auf eine Eintrittswahrscheinlichkeit verschleiern also die tatsächliche Gefahr, dass ein schwerer Unfall jederzeit möglich ist. Die aktuellste Studie zur Eintrittswahrscheinlichkeit eines Super-GAU stammt vom deutschen Max-Planck-Institut für Chemie aus dem Jahr 2012. Demnach ist „etwa alle 10-20 Jahre“ mit einem schweren Unfall in einem AKW zu rechnen.
Weiterbetrieb ist absurd!
Im AKW Gundremmingen passieren also die meisten Ereignisse, die Vorboten extremer Unfälle sind. Dass die beiden letzten deutschen Siedewasserreaktoren in Betrieb sicherheitstechnisch schlecht abschneiden, unterstrich vor zwei Jahren auch eine Risiko-Studie der Gundremminger Bürgerinitiative „FORUM“. Alle anderen vergleichbaren Meiler wurden in Deutschland wegen ihrer Defizite und Störfallhäufigkeit bereits stillgelegt. Die „Süddeutsche Zeitung“ bringt es auf den Punkt: Durch das staatliche Institut GRS wurde nun sogar „amtlich bestätigt“, dass Gundremmingen Deutschlands „gefährlichstes Atomkraftwerk“ ist.
- Block B hat noch zwei Jahre Laufzeit gesetzlich zugesichert, Block C soll sogar noch bis Ende 2021 in Betrieb bleiben. Angesichts der aktuellen GRS-Analyse ist diese Tatsache absurd!
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Quellen (Auszug): Spiegel 51/2015 vom 12.12.2015, sueddeutsche.de, bfs.de, atommuell-lager.de, wikipedia.org, swp.de; 11./12./14.12.2015, Drucksache der Bundesregierung 18/2108 und 17/6988