Nach ungeplanten Zwischenfällen stehen nun alle fünf Atomkraftwerke in der Schweiz still. Auch in Deutschland kam es in den vergangenen Tagen zu Störfällen. Klar ist, das einzig sichere an Atomkraftwerken ist deren Risiko.
Wir blicken nur wenige Tage zurück und können allein aus unserer Presserecherche eine umfangreiche Liste von ungeplanten Ereignissen und Abweichungen vom „Normalbetrieb“ erstellen:
Das Atomkraftwerk Gundremmingen-C in Bayern ging letzte Woche nach der Jahresrevision wieder in Betrieb. Eingesetzt werden in diesem Betriebszyklus auch die umstrittenen, plutoniumhaltigen MOX-Brennelemente. Während der Wartungsarbeiten wurde bei der Vorbereitung einer Druckprobe des Reaktorwasserreinigungssystems die Schutzkleidung von drei Mitarbeitern verstrahlt. Laut Betreiber RWE gäbe es aber keine Gefahr für die Männer, denn die „gesetzlichen Dosisgrenzwerte wurden deutlich unterschritten“.
Im Standort-Zwischenlager des baden-württembergischen Atomkraftwerks Philippsburg befinden sich derzeit 38 Behälter mit hochradioaktiven Abfällen. In der Brandmeldeanlage hat Betreiber EnBW elektrische Baugruppen gefunden, die „nicht gemäß den Angaben des Herstellers verdrahtet“ worden sind. Die Anlage erfülle dennoch ihre Funktion. Wegen der „Systematik“ wurde der Fund als meldepflichtig eingestuft.
Im abgeschalteten AKW Neckarwestheim 1 wurde während einer planmäßigen Funktionsprüfung an einem Notstromaggregat eine geringfügige Undichtigkeit an einer Kühlwasserleitung festgestellt. Ein Stück der Leitung musste getauscht werden. Das Aggregat hätte laut Betreiber EnBW im Anforderungsfall, wie einem Stromausfall, dennoch funktioniert. Auch in dem seit Jahren abgeschalteten Meiler muss die Stromversorgung jederzeit gewährleistet sein. Nur so kann die Kühlanlage die durch die Brennelemente entstehende Hitze abführen.
Alle Schweizer AKW vom Netz
In der Schweiz wurde am Montag der letzte von fünf Meilern vorrübergehend abgeschaltet. Zur Reparatur und Ursachenklärung eines Dampflecks im nichtnuklearen Turbinenkreislauf nahm der Betreiber das AKW Gösgen vom Netz. Zuvor war am Freitag bereits Block 2 des AKW Beznau für eine vier Monate dauernde Wartung abgeschaltet worden. Block 1 am Standort ist seit März vom Netz, die übrigen Meiler in Mühleberg und Leibstadt sind ebenfalls für die Jahresrevision offline.
Dieser Zustand ist Anlass für die Forderung nach der Stilllegung der ältesten Anlagen des Landes: Beznau und Mühleberg sollten sofort stillgelegt werden, fordert Dieter Majer, ehemaliger Leiter des Bereichs Sicherheit von kerntechnischen Anlagen im deutschen Umweltministerium. Er verfasste für die Schweizer Energiestiftung und Greenpeace eine Studie zur Sicherheit der Anlagen. Beide hätten „grundlegenden Sicherheitsdefizite“. Dabei ginge es um Fragen wie Schweissnähte oder die Gestaltung des Reaktordruckbehälters, die „wichtigste sicherheitsrelevante Komponente in einem Kernkraftwerk“, so Majer. „Wenn diese versagt, ist eine Kernschmelze unumgänglich.“
Belgien: Nachschulung für AKW-Mitarbeiter
Für erneute Schlagzeilen sorgt auch das belgische AKW Tihange. Wegen tausender Risse im Reaktor 2 war zuletzt immer wieder von dem Standort berichtet worden. Anfang August hatte die belgische Atomaufsicht zudem vier Mitarbeiter des Kraftwerks vom Dienst supendiert und wegen mangelnder Sorgfalt angezeigt. Bei Ermittlungen hatte sich herausgestellt, dass das Personal auf einen Vorfall im Juli nicht angemessen reagiert und somit gegen die Betriebsvorschriften verstoßen hatte. Der Betreiber selbst habe „eine Vielzahl von Verstößen gegen die eigenen Sicherheitsregeln“ aufgedeckt. Die Atomaufsichtsbehörde hat die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und drohte sogar mit der Zwangsabschaltung des Kraftwerks. Alle Mitarbeiter müssen jetzt zu Nachschulungen. Das Ereignis wurde als „Störung“ (INES 1) deklariert.
In der Nacht zu Donnerstag kam es nun im Zuge von Wartungsarbeiten in Block 3 zu einer automatischen Schnellabschaltung.
Stillstand auch im tschechischen Temelin
Im tschechischen „Pannen-Meiler“ Temelin ist es ebenfalls zu einer unplanmäßigen Abschaltung gekommen. Block 2 musste aufgrund einer Störung im Kühlsystem des Generators letzten Mittwoch offline gehen. Auch hier handle es sich laut Atomaufsicht um eine „Störung“ (INES 1). Block 2 war erst vor zwei Wochen wieder angelaufen, nachdem im Juli ein Leck im Bereich des Dampferzeugers repariert werden musste. Da auch Block 1 vom Netz ist, steht damit auch dieser Standort komplett still.
„Die größere Störanfälligkeit entsteht meiner Meinung nach daher, dass in Temelín russische Hardware mit westlicher Software von der amerikanischen Firma Westinghouse kombiniert wurde. Vor allem nach der Inbetriebnahme war klar, dass diese beiden Kreisläufe im Kraftwerk nicht aufeinander abgestimmt sind“, berichtet Jan Rovenský, Atomexperte bei Greenpeace.
Protestfahrt gegen Fessenheim
In Frankreich sind unterdessen AtomkraftgegnerInnen auf dem Rhein auf Protestfahrt. Vom Breisacher Rheinufer aus starteten sie am Sonntag mit einem Motorboot und wollen am kommenden Freitag (28.8.) das holländischen Dordrecht erreichen. Die AktivistInnen des Vereins „Fukushima nie vergessen“ machen in 13 Städten entlang des Rheins unter dem Aktionsmotto „Alle strahlen – Keiner lacht! Kein Super-GAU am Rhein!“ halt und fordern die sofortige Stilllegung von Frankreichs ältestem Atomkraftwerk Fessenheim.
weiterlesen:
- Was Du tun kannst: Ideen für einen schnelleren Atomausstieg
Von wegen Atomausstieg: Deutschland ist noch immer zweitgrößter Atomstromproduzent der EU! Hier sind acht Ideen, wie Du dem halbfertigen Atomausstieg Beine machen kannst.
- Atomkraft ist „ein teurer Fehler“
12. August 2015 — In Deutschland betreibt RWE noch mehrere Atomkraftwerke. Doch in England stimmt der Konzern andere Töne an und schließt sich der Kritik von AtomkraftgegnerInnen an.
- AKW-Störfall-Report für Juli 2015
7. August 2015 — Im Juli 2015 wurden 8 Störfälle, Vorkomnisse oder Abweichungen vom regulären Betrieb in Atomanlagen verzeichnet. Davon sind 5 deutsche Anlagen betroffen. Seit Jahresbeginn summieren sich in unseren Aufzeichnungen allein in Deutschland sämtliche Störungen auf 39, davon 36 meldepflichtige.
- Auslaufmodell Atomkraft: Report liefert Zahlen
16. Juli 2015 — Der „World Nuclear Industry Status Report“ beschreibt einmal im Jahr die weltweite Entwicklung der Atombranche und nimmt kritische Bewertungen vor. Auch 2015 kommen die Autoren zu folgendem Ergebnis: Die Atomenergie ist ein Auslaufmodell, weltweit befindet sie sich auf Talfahrt.
Quellen (Auszug): enbw.com, kkw-gundremmingen.de, srf.ch, 20min.ch, wdr.de, http://de.sputniknews.com, radio.cz, iwr.de, badische-zeitung.de; 7., 10., 11., 13., 16.8.2015