Nach Beginn des Super-GAU von Fukushima mussten alle japanischen Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Milliarden wurden bis heute in Sicherheitsnachrüstungen investiert. Laut Atomaufsicht sind die Vorschriften jetzt „die strengsten der Welt“. Dem widersprechen renommierte Wissenschaftler und warnen vor dem angekündigten Wiederanfahren der AKW: Die Gefahren durch mögliche Erdbeben werden weiterhin nicht ernst genommen.
Für zwei der über 50 Reaktoren hat die japanischen Atomaufsicht (NRA) bereits Betriebsbewilligungen erteilt, in der Prüfung für ein Wiederanfahren befinden sich weitere 15 Meiler. Im Juli soll ein Block am Standort Sendai als erster die nukleare Stromproduktion nach Fukushima wieder aufnehmen.
Diese „Sicherheitsvorschriften“ seien eine „Beruhigung für besorgte Bürger“, meinen renommierte Wissenschaftler und warnen: Auch die neuen Vorschriften genügen internationalen Standards nicht.
Katsuhiko Ishibashi, einer der anerkanntesten Seismologen Japans, der sich viel mit dem Effekt von Erdbeben auf Atomkraftwerke beschäftigt, nennt die Vorschriften „zu lax“ und warnt vor dem AKW Sendai: Die NRA habe ihre eigenen Regeln verletzt; die Betriebsbewilligungen sei illegal.
Ishibashi, früher selber Mitglied einer staatlichen Atom-Kommission, warnte bereits 2007 vor einem „Domino-Effekt“, wie er in Fukushima nach dem Erdbeben im März 2011 geschah: Schäden am Reaktor, Ausfall der Notkühlung, Überhitzung der Brennelemente, Kernschmelze. Auch die Wasserstoffexplosion, die das Gebäude erheblich beschädigte, beschrieb er schon 2007. TEPCO, Betreiber der Fukushima-Anlage, wies diese Erkenntnisse nach dem GAU zurück.
Neben diesen verhallten Warnungen weist Ishibashi auf weiterhin bestehende Defizite in der Bewertung der Wirkung von Erdbeben auf Atomkraftwerke hin. Es hänge von drei Faktoren ab, welche Schäden ein Beben verursache: Die Beschleunigung und Richtung mit der die Erde bebt, die Frequenz der seismischen Wellen und ihre Amplitude sowie die Dauer.
Risiko von Erdbeben tiefer Frequenzen wird deutlich unterschätzt
Bei den neuen Bewertungen unbeachtet seien „Wellen eines Bebens mit niedriger Frequenz“, so Ishibashi. Die Wellen mit 1 bis 2,5 Hertz hätten eine große Reichweite und würden unterwegs weniger Energie verlieren. Deshalb seien auch in über 100 Kilometer Entfernung noh große Schäden möglich. In Japan aber gibt es kein AKW, das mehr als 100 Kilometer von jedem möglichen Erdbeben-Zentrum entfernt liegt.
Zudem würden sich diese Erschütterungen „besonders verheerend“ auf Strukturen auswirken, die von den Schwingungen in Resonanz versetzt werden. Die Bewegungen könnten sich dann aufschaukeln. In Amerika ist deshalb seit Fukushima eine Untersuchung der Erdbebensicherheit über das ganze Frequenzspektrum möglicher Erdbebenwellen vorgeschrieben – in Japan allerdings nicht. Das AKW Sendai sei nur auf drei vom Betreiber selbst gewählte Frequenzen getestet worden, warnt der Seismologe. Erdbeben, die nicht von einer bekannten Erdspalte ausgehen, sondern mitten auf einer Kontinentalplatte geschehen, habe das Unternehmen ignoriert. Dabei habe es solch ein Ereignis zuletzt 1909 in 100 Kilometer Entfernung mit einer Stärke von 7,7 gegeben.
„Unterdimensionierte“ Atomkraftwerke
Dass die von Erdbeben mit tiefen Frequenzen provozierten, maximalen Beschleunigungen die zulässigen Grenzwerte für ein AKW überschreiten, dafür gibt es laut Ishibashi ebenfalls Belege: In Japan beim Niigata-Beben 2007, beim Auslöser des Fukushima-Unglücks am 11. März 2011 oder bei Erdstößen im US-Bundesstaat Virginia 2011. Obwohl das Beben in Niigata von der Magnitude her schwächer war als bei der Planung des dortigen AKW Kashiwazaki-Kariwa angenommen, hätten die Kräfte des Bebens die maximal erwarteten Werte um das Zweieinhalbfache übertroffen. Jedes Mal habe es auch Schäden an Atomanlagen gegeben. Bei Einbezug des „Domino-Effekts“ habe immer auch das Risiko schwerer Unfälle bestanden. Ishibashi kommt zu dem Schluss: Die Atomanlagen sind „unterdimensioniert“.
Zu kurze Erschütterungsdauer und unerforschte Meere
Der Seismologe kritisiert die Betrachtung einer weiteren Bewertungskomponente: die Erschütterungsdauer. Das Beben, das Fukushima zerstörte, habe laut Aufzeichnungen fast fünf Minuten gedauert. Der AKW-Betreiber von Sendai betrachte in seinen Gutachten aber nur eine Erschütterungsdauer von 30 Sekunden, warnt Satoshi Sato, ehemaliger Reaktor-Ingenieur von General Electric. Das sei „viel zu kurz“. Auch würden nur Beben in der Vergangenheit betrachtet. Die aktuellen Richtlinien sähen aber vor, dass eine Anlage auch Beben standhalten muss, die Seismologen aufgrund der allgemeinen Plattentektonik für möglich halten, selbst wenn sie bisher nicht beobachtet wurden.
Es sei durchaus möglich, dass besonders AKW-Standorte an der Küste von sehr seltenen aber besonders heftigen Erdstößen betroffen werden, denn das Meer sei „seismologisch weniger erforscht“, weiß Seeismologe Ishibashi. Deshalb dürften die Betreiber für ihre Genehmigungsgesuche nur Durchschnitts-Beben annehmen – für Ishibashi ein weiterer Regelverstoss. Betroffen von diesen Befürchtungen seien im Übrigen alle japanischen Atomkraftwerke.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: Die Bewilligung für das AKW Takahama wurde nach einer Klage von AnwohnerInnen ausgesetzt. Die Werte von Durchschnittsbeben, mit denen die Betreiberin die Erdbebensicherheit belegen wollte, seien zweifelhaft, so das Urteil.
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Quelle (Auszug): sueddeutsche.de, 24.06.2015