In Jaitapur soll das größte AKW der Welt entstehen. Es wird zum Kristallisationspunkt der jungen indischen Anti-AKW-Bewegung
Atomenergie ist in Indien Staatsräson. Sie gilt als Ausdruck von „Entwicklung“ und soll die grassierende Energiearmut beseitigen helfen. Premierminister Manmohan Singh möchte die AKW-Kapazitäten von 4,78 Gigawatt 2009 auf 470 Gigawatt im Jahr 2050 verhundertfachen. Dafür sollen mehrere Mega-AKW-Parks entstehen. Protesten begegnet die Regierung mit massiven Repressionen.
Neben den Anti-Atom-Netzwerken auf nationaler Ebene gibt es zwei lokale Hochburgen des Widerstands: In Koodankulam an der Südspitze des Subkontinents, wo sich seit 2001 zwei Reaktoren im Bau befinden; ihre Inbetriebnahme steht kurz bevor, der Widerstand ist heftig. Und in Jaitapur, 350 km südlich von Mumbai, wo die Regierung in Zusammenarbeit mit dem französischen Konzern „Areva“ den größten Atomkraftwerkspark der Welt errichten will: sechs „Europäische Druckwasserreaktoren“ (EPR) – ein von Areva entwickelter Reaktortyp, der bisher noch nirgendwo auf der Welt in Betrieb ist –, die zusammen einmal 9,9.
Atomstrom oder Fische?
Jaitapur gleicht ein wenig dem Paradies auf Erden: fruchtbare Felder, grüner Regenwald und Mangobäume erstrecken sich entlang der Steilküste. Die Gegend zählt zu den drei Zonen Indiens mit der größten Biodiversität. Die Region ist darüber hinaus stark erdbebengefährdet – zuletzt bebte die Erde im Jahr 2009. In der Umgebung Jaitapurs sieht man überall auf den Mauern der Felder, auf Tempeln, Bushaltestellen und auf den Straßen den Slogan „No nuclear – Areva go back“.
40.000 Menschen wären direkt oder indirekt von dem AKW-Komplex betroffen. Das ins Meer zurückfließende Kühlwasser hätte desaströse Auswirkungen auf die Fischgründe, die Fischer müssten ihre Arbeit aufgeben oder umsiedeln. Vorsorglich hat die Regierung das Land, auf dem das AKW gebaut werden soll – eine kleine Halbinsel – schon mal konfisziert, mit einer Mauer umzäunt und lässt es von PolizistInnen permanent bewachen. Hauptelement des Widerstands ist, dass die AnwohnerInnen die angebotenen Entschädigungszahlungen aus Protest nicht annehmen. Vielerorts suchen deshalb nun bis zu einmal wöchentlich BeamtInnen und PolizistInnen die Menschen in ihren Häusern auf, um sie zu „überreden“. „Fällt eine kritische Masse der Bewohner um und nimmt das Geld an, könnte die Regierung mit dem Projekt voranschreiten und überall verbreiten, die lokale Bevölkerung habe das Projekt nun akzeptiert“, erklärt Rajendra Fatarpekar, ein Aktivist der ersten Stunde.
Kolonialgesetze gegen den Protest
Wegen des geplanten AKW herrscht momentan sozusagen Ausnahmezustand in der Region. Die Regierung wendet dabei ein Gesetz aus der Kolonialzeit an, das für Bürgerkriegssituationen gedacht war und jede Ansammlung von mehr als drei Personen verbietet. Seit den letzten großen Anti-Atom-Protesten gab es über 10.000 Anklagen. Mehrere Hundert AktivistInnen haben Tage oder gar Wochen in U-Haft verbracht. Die EinwohnerInnen durften für mehrere Tage ihre Häuser nicht verlassen. AktivistInnen aus Mumbai haben Einreiseverbot in die Region.
Warum diese scharfen Reaktionen? Atomkraft ist für den indischen Staat seit den 1950er Jahren ein zentrales Projekt, die gesamte Elite unterstützt – mit ganz wenigen Ausnahmen – das Atomprogramm. Zivile und militärische Nutzung waren immer eng verknüpft. Die Atomenergiebehörde untersteht direkt dem Premierminister und ist jeder öffentlichen oder parlamentarischen Kontrolle entzogen. Die Regierung selbst ist Betreiber aller Atomforschungszentren wie AKW. Unabhängige Studien und kritische Stimmen in der Öffentlichkeit sind rar. Auf den indischen Atombombentest 1998 reagierten westliche Staaten mit einer Blockade gegen das zivile Atomprogramm. 2008 hob die US-Regierung diese jedoch aus geopolitischen Erwägungen wieder auf. Seitdem plant Delhi, nukleare Technologie im großen Stil zu importieren – sehr zur Freude der Atomindustrie in den USA, Frankreich und Russland. Die massive Unterdrückung der Anti-Atom-Bewegung rührt mit her von dieser immensen politisch-ökonomisch-militärischen Bedeutung der Atomenergie.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen, meint Politikwissenschaftler Achin Vanaik aus Delhi, habe die Anti-AKW-Bewegung in Indien mittlerweile ein Stadium erreicht, das über lokale Proteste gegen einzelne Projekte hinausgehe. Sie sei zu einer Bewegung gegen Atomenergie als solche geworden. Was wir am häufigsten zu hören bekommen ist: „Macht unseren Widerstand bekannt in Deutschland“.
Dieser Text erschien ursprünglich im .ausgestrahlt-Magazin im September 2013