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Die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011
Radioaktiv verseuchtes Wasser in den Pazifik?
Japan leitet seit dem 24. August 2023 gefiltertes, aber noch radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ins Meer. Wie auch anderswo sollen die radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomkraft unsichtbar gemacht werden, weil eine langfristige Lösung nicht existiert.
Auch 13 Jahre nach der Katastrophe müssen die havarierten Reaktoren weiter mit Wasser gekühlt werden. Es existieren keine geschlossenen Kühlkreisläufe, daher nimmt dessen Menge täglich zu. Inzwischen lagern mehr als 1,3 Millionen Tonnen verstrahltes Kühlwasser auf dem Gelände. Dieses Wasser leitet Japan jetzt ins Meer ab. Es wird zwar gefiltert und verdünnt, enthält aber weiterhin diverse Radionuklide – neben Tritium beispielsweise Cäsium 134/137, Strontium 90, Kobalt 60, Kohlenstoff 14 und Jod 129.
Die Auswirkung von Tritium und der anderen Radionuklide auf das Ökosystem und die Nahrungskette ist wenig untersucht. Langzeitfolgen werden nicht berücksichtigt. Fraglich ist auch, wie sich einzelne Radionuklide im Meerwasser verhalten, in der Nahrungskette anreichern und was für Schäden sie dabei anrichten.
Deshalb: Das Kühlwasser in Fukushima muss weiterhin in Tanks streng kontrolliert aufbewahrt bleiben und darf nicht in den Pazifik geleitet werden.
→ Mehr Details im Forderungsschreiben der Yosomono-Net (Netzwerk von japanischen Anti-Atom-Gruppen im Ausland)
Am 11. März 2011 um 14.46 Uhr ereignet sich vor der Ostküste Japans, 130 Kilometer östlich von Sendai, ein schweres Seebeben (Stärke 9,0 auf der Richterskala). Die Erdstöße verursachen gravierende Schäden im AKW Fukushima Daiichi, die nachfolgende Flutwelle (Tsunami) verschärft die Situation noch. Stromversorgung und Kühlung aller sechs Reaktoren sowie der sieben Abklingbecken mit hochradioaktiven Brennelementen fallen aus. Die Blöcke 4 bis 6 sind wegen Wartungsarbeiten zufällig außer Betrieb, in den Blöcken 1 bis 3 jedoch scheitern trotz Schnellabschaltung alle Versuche, die Reaktoren ausreichend zu kühlen. In allen drei Reaktoren kommt es deshalb zur Kernschmelze und somit zum Super-GAU – in Block 1 bereits am 12. März, in den Blöcken 2 und 3 wenige Tage später. Explosionen in den Blöcken 1 bis 4 zerstören unter anderem die Gebäudehüllen.
Wochenlang ziehen immer neue radioaktive Wolken von Fukushima aus über Japan und/oder den Pazifik. Unter anderem lässt AKW-Betreiber TEPCO mehrfach radioaktiven Dampf ab, um Explosionen im Innern der Reaktoren zu verhindern, die eine noch größere Freisetzung radioaktiver Stoffe zur Folge hätten haben können.
Neben den sechs Reaktoren in Fukushima-Daiichi kommt es aufgrund des Erdbebens auch in den vier Reaktoren des AKW Fukushima-Daini, den drei Reaktoren des AKW Onagowa, im AKW Tōkai-2 sowie in der Wiederaufarbeitungsanlage Rokkasho zu kritischen Situationen wie dem Ausfall von Stromversorgung und/oder Kühlung. Sie können jedoch noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle gebracht werden.
Unsere Empfehlung zu frei verfügbaren Dokumentationen über den Super-GAU von Fukushima
Fukushima nach dem Super-GAU
Dokumentation Deutschland, 2014, 42 Minuten
Fukushima und die Wahrheit hinter dem Super-GAU
Dokumentation Deutschland, 2013, 53 Minuten
Der Film von Peter F. Müller, Michael Mueller und Philipp Abresch geht der Frage nach, was in den Reaktorblöcken 1 bis 4 des Atomkraftwerks in Fukushima tatsächlich passiert ist und inwieweit die Verantwortlichen in Japan den Umfang der Katastrophe vor der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit verborgen haben - und bis heute verbergen. Die Dokumentation macht dabei deutlich, wie die japanische und internationale Atomlobby zusammenarbeiten und wie selbst internationale Aufsichtsbehörden sich durch diese Interessenvertreter instrumentalisieren lassen.
Die Fukushima-Lüge
ZDF-Dokumentation, Deutschland 2014, 29 Min.
Als die japanische Regierung am 11. März 2011 den atomaren Notstand ausrief, hielt die Welt den Atem an. Das große Erdbeben und der folgende Tsunami hatten in Japans Norden ganze Städte ausgelöscht. Japan am Boden, und jetzt auch noch der befürchtete Super-GAU - mit unabsehbaren Folgen für Japan und die Welt. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Wie sind Japans Atombosse und die Regierung damit umgegangen? Und wo steht das Land drei Jahre nach der Katastrophe?
Fukushima - Chronik eines Desasters
arte-Dokumentation, Japan 2012, 47 Minuten
Der Film wirft ein erschreckendes Schlaglicht auf bisher selbst von Experten nicht erkannte Schwachstellen von Atomkraftwerken. Er zeigt, wie es überhaupt zu einem Totalausfall der Stromversorgung und infolgedessen zu einer mangelhaften Kühlung der Reaktorkerne und Brennstäbe kommen konnte - mit der bekannten fatalen Kettenreaktion von der Kernschmelze bis zum Freisetzen erheblicher Mengen an Radioaktivität.
Interviews mit den zum Zeitpunkt der Havarie diensthabenden Mitarbeitern ermöglichen es, die Ereignisse im Kontrollraum des Kernkraftwerks genau zu rekonstruieren. Anhand von 3D-Computergrafiken, nachgestellten Szenen und Exklusivinterviews wird deutlich, dass die tatsächlichen Verhältnisse im Reaktorblock 1 viel gefährlicher waren, als es die Arbeiter in der Kontrollzentrale ahnen konnten.
Bücher zu Fukushima – Unsere Empfehlungen
Alexander Tetsch: „Fukushima 360 Grad - das atomgespaltene Leben"
Im Mai 2013 reiste der Fotograf Alexander Tetsch (geb. Neureuter) 4.000 Kilometer quer durch Japan. Anhand von 44 Einzelschicksalen zeigt er, wie sich das Leben für die Menschen vor Ort unwiderruflich verändert hat. Sein Bildband, erschienen in Kooperation mit der Ärztevereinigung IPPNW (Ärzte gegen Atomkrieg), zeigt die tief in den Alltag eingedrungene Präsenz der Nuklearkatastrophe.
204 Seiten, 158 meist großformatige Farbfotografien. Neureuters 2011, ISBN 978-3-00-044733
Katsuhiro Ichikawa 2014: Zuhause in Fukushima. Das Leben danach: Portraits mit Fotos
Kei Kondo hat seinen Bio-Bauernhof verloren. Sadako Monma musste ihren Kindergarten schließen. Der Arzt und Diplomat Ryohei Suzuki kehrte nach der Katastrophe nach Fukushima zurück, um im dortigen Krankenhaus zu arbeiten. Judith Brandner erzählt in diesem Buch in 13 sensiblen Porträts, wie sich die Katastrophe von Fukushima auf die dort lebenden Menschen auswirkt. Der japanische Fotograf Katsuhiro Ichikawa hat Judith Brandner bei ihren Recherchen begleitet und die Menschen fotografiert, mit denen sie gesprochen hat. Die Fotos zeigen auf berührende Weise, wie die Menschen heute dort leben und fühlen.
160 Seiten, Kremayr & Scheriau 2014, ISBN-10: 3218009065
Lisette Gebhardt, Steffi Richter (Hrsg.): Lesebuch Fukushima
Kurz nach der Dreifachkatastrophe in Fukushima wurde die Textinitiative Fukushima gegründet, die japanische Texte ins Deutsche übersetzt und so auch diejenigen an der innerjapanischen Debatte um Fukushima teilhaben lässt, die kein Japanisch verstehen. Die Ergebnisse wurden nun in einem Lesebuch veröffentlicht. Das Lesebuch ist interdisziplinär ausgerichtet und enthält vier Themenkomplexe: Atompolitik in Japan, Kunst nach Fukushima, Medienmanipulation durch die Atomlobby und Anti-AKW Proteste nach Fukushima.
Eb-Verlag 2013, 442 Seiten, ISBN:978-3868931037
Susan Boos: Fukushima lässt grüßen
Man muss sich vorstellen können, was ein Super-GAU in unmittelbarer Nähe mit der eigenen Welt anrichten würde. Nach der Fukushima-Katastrophe reiste Autorin Susan Boos nach Japan, um das Geschehen in den verstrahlten Gebieten zu dokumentieren. Boos analysiert die Ereignisse und fragt: Was wäre, wenn ein solches Unglück in der Schweiz oder in Deutschland geschähe? Wie würde evakuiert? Wohin? Wer räumt auf? Wer trägt die Kosten?
271 Seiten, kartoniert, Rotpunktverlag 2012, ISBN-10: 3858694746
Coulmas, Florian / Stalpers, Judith: Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe
Florian Coulmas und Judith Stalpers schildern in diesem Buch den verheerenden Verlauf des großen Bebens, analysieren, wie es zur Havarie der Reaktoren kommen konnte und beschreiben, wie die japanische Gesellschaft mit der Katastrophe umgegangen ist. Dabei lassen sie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse einfließen und hinterfragen die Klischees der westlichen Berichterstattung. So entsteht eine subtile Einführung in das heutige Japan und seine besonderen Mentalitäten, Prägungen und Strukturen. Am Ende steht die Frage nach der Zukunft und den Folgen, die die Katastrophe für das Land haben wird.
192 Seiten, 30 Abbildungen und 8 Tabellen. Paperback, C.H.BECK 2011, ISBN 978-3-406-62563-3
Manga: Daisy aus Fukushima - Ein Comic im japanischen Stil von Reiko Momochi
Anderthalb Monate nach dem verheerenden Erdbeben vom 11. März 2011 kehrt Fumi an ihre Schule in Fukushima zurück. Es war eine unfreiwillige Schulpause, in der sich so vieles verändert hat … Die Strahlung und die damit verbundene Unsicherheit ist allgegenwärtig: Fumis kleiner Bruder darf nicht mehr draußen spielen und ein kleiner Regenschauer genügt, um die Schüler panikartig unter das Schuldach flüchten zu lassen. Fumi und ihre Freundinnen wollen sich davon aber nicht ihre Jugend kaputtmachen lassen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn die Auswirkungen der Katastrophe ziehen immer weitere Kreise …
340 Seiten, von rechts nach links zu lesen, Egmont 2016, ISBN 978-3-770-49162-9
Sieben Jahre Atomkatastrophe Fukushima
„Viele wollen nicht zurück“
Interview | Fukumoto Masao, Journalist, über die Dekontaminationsversuche der Regierung in der Sperrzone um Fukushima und über Evakuierte, die nicht zurückkehren wollen
Herr Fukumoto, sind in Fukushima nun alle gegen Atomkraft?
Einige sind sehr engagiert. Andere hingegen wollen einfach alles wieder so machen wie früher. Wenn man in Fukushima-City, etwa 70 Kilometer nördöstlich der havarierten Reaktoren, vor dem Bahnhof steht, bemerkt man erst mal gar nichts von der Katastrophe. Da ist Normalität eingekehrt. Viele hier wollen auch vermeiden, dass man über die Gefahren spricht. Aber man sieht Messstellen, die es vorher nicht gab. Man muss immer noch auf Radioaktivität achten. Und frühmorgens auf dem Weg in die Stadt habe ich gesehen, dass auch hier noch dekontaminiert wird.
Die eigentliche Sperrzone nach dem Super-GAU reichte nur 20 Kilometer um das AKW. Mehr als 150.000 Menschen mussten damals ihre Häuser verlassen. Wie viele davon sind sieben Jahre später schon zurückgekehrt?
Schwer zu sagen. Nehmen wir Minamisōma, nördlich des AKW. Diese Stadt war dreigeteilt: Der südliche Stadtbezirk Odaka lag in der Sperrzone, da mussten alle fliehen. In dem angrenzenden Bezirk war die Evakuierung nur empfohlen. Und der nördliche war offiziell gar nicht betroffen. Die Sperrzone in Odaka wurde im Juni 2016 aufgehoben. In dem einen Jahr seither sind von den ehemals 13.000 Einwohner*innen nur circa 2.000 zurückgekehrt.
Wo sind die übrigen 11.000?
Keiner weiß es. Es ging hier ja nicht um eine Evakuierung von ein paar Wochen Dauer – die Menschen konnten jahrelang nicht mehr nach Hause! Die wohnten erst in Notunterkünften, dann in provisorischen Bauten. Irgendwann suchen Sie sich dann etwas anderes. Ob sie überhaupt je zurückkommen, ist unklar.
Was ändert sich für sie, wenn die Regierung die Sperrzone in ihrem Heimatort aufhebt?
Dann zählen sie nur noch als freiwillig Evakuierte und erhalten nach einem Jahr keine Entschädigung mehr.
Ein ökonomischer Druck, zurückzukehren.
Ja. Aber viele haben vielleicht inzwischen an ihrem neuen Wohnort auch eine Arbeit gefunden. In der ehemaligen Sperrzone hingegen gibt es keine Jobs. Da müsste man erst einmal wieder welche schaffen oder Firmen ansiedeln. Und vor allem die Jüngeren, vor allem die mit Kindern, wollen überhaupt nicht zurück. Zurückgekehrt sind fast ausschließlich alte Leute.
Kann man denn einfach wieder einziehen in das Haus, das man vor dem Super-GAU bewohnt hat?
Nein, das geht nicht. Dekontaminiert wurde ja nur außen. Aber Möbel, Vorhänge, das ganze Inventar, das ist auch alles radioaktiv verseucht. Das müssen sie alles erst einmal entsorgen!
Das fliegt alles auf den Müll?
Nicht nur das. Ich war in so einem sanierten Haus: Wandverkleidung, Fußbodenbeläge – da war alles neu. Nur die Stützen waren stehengeblieben. Der Besitzer war Strahlenschutzbeauftragter eines Unternehmens, der kannte sich ein bisschen aus. Wenn er das Messgerät nach oben halte, sagte er, stiegen die Strahlenwerte: weil noch immer radioaktive Stoffe in der Decke drin sind. Das ist alles nicht so einfach. Und weil jahrelang niemand darin gewohnt hat, ist in den Häusern zudem viel Ungeziefer – auch nicht so schön …
Etliche Häuser werden auch abgerissen, …
… meist ohne ausreichenden Strahlenschutz! Das machen einfache Bauarbeiter, die davon keine Ahnung haben.
Gibt es Schulen, Kitas?
Ja, die haben sie alle renoviert. Aber es gibt keine Kinder. Sie hoffen nun, dass Schüler*innen aus den nicht evakuierten Gebieten kommen. Die Regierung ignoriert die Radioaktivität einfach. Sie sagt, das sei alles sicher. Aber wer kleine Kinder hat, der hat Angst. Die Strahlenwerte sind ja auch nur in der Siedlung selbst reduziert. Je näher man der Natur kommt, desto höher werden sie.
Ich kenne ein Ehepaar in Fukushima-City, da will der Mann zurück, die Frau nicht. Um ihr ehemaliges Haus in der Sperrzone herum wurde 20 Meter weit dekontaminiert, also das Erdreich abgetragen, die Mauern abgekratzt und so weiter. So eine Dekontamination eines Hauses kostet etwa 100.000 Euro. Aber wenn der nächste Sturm kommt, ist alles wieder voll mit radioaktivem Staub. Das Haus steht am Fuß des Gebirges, welches man gar nicht dekontaminieren kann. Wenn man das Messgerät in Richtung Gebirge hält, klettert es auf 10 Mikrosievert pro Stunde.
… das Zehn- bis Hundertfache der natürlichen Strahlenbelastung in Deutschland.
Die müssten eigentlich Bleifolie an die Wand kleben. Und jeder Wind bläst kontaminiertes Laub und anderes von den Hügeln runter …
Wie ist es um den sozialen Frieden bestellt?
Schwierig. Wenn man wegziehen musste, bekam man Entschädigung. Wohnte man hundert Meter weiter, außerhalb der Sperrzone, zählte man nur als freiwillig Evakuierter und bekam kein Geld. Das schürt Neid. Das erwähnte Ehepaar etwa, wenn das jetzt in sein altes, wieder freigegebenes Haus zurückkehren will, dann sagt ihr jetziger Vermieter: Ihr habt viel Geld, also müsst ihr für die Räumung eurer zwischenzeitlich genutzten Wohnung viel Geld bezahlen.
Ich kenne auch einen Bauern, dessen Betrieb in der Zone liegt. Der kämpft energisch darum, auch für seine Tiere Entschädigung zu bekommen. Kriegt er dann 7.500 Euro pro Kuh, werden alle anderen neidisch. In der ganzen Präfektur, sagt seine Frau, habe man jetzt gesellschaftliche Konflikte.
Waren Sie auch in der Sperrzone selbst?
2015 bin ich mal durchgefahren, die Straße von Norden nach Süden ist freigegeben. An jeder Kreuzung steht ein Wachmann und passt auf, dass niemand ohne Genehmigung abbiegt. Sonst sieht man niemanden. Und an allen Hauseingängen sind Gitter, gegen Diebstahl.
Fukumoto Masao, 60, lebt als freier Journalist in Berlin. Der frühere Einkäufer eines japanischen Unternehmens in der DDR arbeitet heute vor allem für japanische Medien. Er beschäftigt sich viel mit Atomkraft, eines seiner Bücher behandelt die radioaktive Kontamination Deutschlands durch Tschernobyl. Mehrfach hat er in den vergangenen Jahren die Gegend um Fukushima besucht, zuletzt im Sommer 2017. Über seine Erfahrungen in Fukushima berichtet er auch in der Zeitschrift „Strahlentelex“.
Wie hoch ist die Strahlung?
Auf der Straße selbst nicht so hoch. Aber an manchen Stellen sind Radioaktivitäts-Anzeigen angebracht, die sehr hohe Werte zeigen – wenn der Messpunkt neben der Straße liegt. Drei, vier Mikrosievert pro Stunde, das ist ziemlich viel. Und das zehn Kilometer vom AKW entfernt!
Damals war ich auch in einer gerade zur Rückkehr freigegebenen Stadt, Naraha, südlich des AKW. Es war die zweite oder dritte freigegeben Ortschaft überhaupt. Das war gruselig, weil man dort fast keine Menschen sah. Die Messstelle am Rathaus zeigte 0,4 Mikrosievert pro Stunde – nicht wenig, aber noch erlaubt. Man hat versucht, für die Rückkehrenden was zu machen, hat provisorische Restaurants und Läden gebaut. Aber die werden überwiegend bloß von Dekontaminiationsarbeiter*innen oder welchen aus dem AKW besucht. Einheimische sind so gut wie keine zurückgekommen.
Was ist die Ziel der Regierung?
Sie will bis 2020, spätestens 2023 die gesamte Sperrzone wieder freigeben. Zu den Olympischen Spielen 2020 sollen Wettkämpfe in Fukushima stattfinden!
Würde man rings um Fukushima jetzt eine Umfrage machen: „Für oder gegen Atomkraft?“ Wieviel Prozent wären dagegen?
In ganz Japan ist eine kleine, aber eindeutige Mehrheit gegen Atomenergie. In Fukushima sind es etwas mehr.
War das vor der Katastrophe auch schon so?
Nein. Die AKW-Standorte haben unglaublich viel Geld bekommen. Die Mehrheit dort, vor allem aber die Politiker*innen, waren daher immer für die AKW. Und selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung gegen Atomkraft ist, so wählt sie doch Parteien, die für Atomkraft sind – auch heute noch.
2011 gab es auch in Japan große Anti-Atom-Demos.
Für japanische Verhältnisse sind sie noch immer ziemlich groß. Aber das Interesse nimmt ab.
Was hat Sie am meisten erstaunt bei Ihrem Besuch in Minamisōma im Sommer?
Wie aktiv einige Leute dort sind. Eine Initiative, die eine Messstelle betreibt, baut mit einem Landwirt zusammen Raps an – auf Feldern, auf denen wegen der radioaktiven Kontamination kein Reisanbau mehr möglich ist. Das sind alles alte Leute, die das machen. Aber sie haben extra eine Maschine gekauft, mit der sie den Raps ernten, und lassen dann Öl, Dressing und Majo daraus herstellen; künftig wollen sie auch das selbst übernehmen.
Sind diese Produkte nicht auch kontaminiert?
Die Radioaktivität bleibt in den Rückständen. Das haben sie von Tschernobyl gelernt.
Interview: Armin Simon
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4
Von den 54 Reaktoren, die vor dem Super-GAU in Japan Strom erzeugten, sind sieben Jahre später ganze vier wieder am Netz. Ein fünfter, im August 2016 wieder gestarteter Reaktor musste nach einem Gerichtsbeschluss im Dezember 2017 wieder vom Netz. Die Richter stuften die Risikoeinschätzung der Atomaufsichtsbehörde als unzureichend ein und warfen dieser „irrationales“ Handeln vor.
26
Die Neuerkrankungsrate von Kindern und Jugendlichen an Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima ist etwa 26 mal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Allein von April 2014 bis März 2016 sind 49 zuvor gesunde Kinder neu an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Statistisch zu erwarten gewesen wäre gut eine Neuerkrankung pro Jahr. Insgesamt sind bei dem in Folge des Super-GAU eingeführten Screening in der Präfektur bisher 191 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen entdeckt worden.
5.000
Nach Angaben des AKW-Betreibers Tepco sind jeden Werktag im Schnitt mehr als 5.000 Arbeiter*innen auf dem AKW-Gelände mit Sicherungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Alle drei Reaktoren, in denen es 2011 zur Kernschmelze kam, müssen weiterhin gekühlt werden; wie es in ihrem Innern aussieht, ist nur rudimentär bekannt. In allen dreien lagern zudem auch in den nahezu ungeschützten Brennelementlagerbecken noch Brennelemente; lediglich das Becken von Block 4 konnte bisher geräumt werden.
„Politisch nicht gewollt“
Dr. med. Alex Rosen, Kinderarzt und im Vorstand der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, über unerwünschte Gesundheitsstudien zu Fukushima, erschreckend viele Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und den langen Arm der japanischen Atomlobby / Interview zum 5. Jahrestag von Fukushima/2016
Fünf Jahre ist der Super-GAU von Fukushima her. Ist das Schlimmste überstanden?
Nein. Wir fangen gerade erst an, die ersten Folgen zu sehen. Viele der durch radioaktive Strahlung hervorgerufenen Krankheiten haben eine Latenzzeit von Jahren oder Jahrzehnten. Zudem tragen sie kein Herkunftssiegel. Um die Folgen des Super-GAUs zu erfassen, muss man gezielte, gut angelegte epidemiologischen Studien machen, sonst findet man diese Fälle nicht und es geht im Grundrauschen aller Erkrankungen unter.
Gibt es solche Studien in Japan?
Immerhin eine – allerdings nur unter Kindern bis 18 Jahren, nur in Fukushima und nur speziell mit Blick auf Schilddrüsenkrebs.
Wie unabhängig ist dieses Screening?
Nun ja, wir haben nichts anderes. Durchgeführt wird die Studie von der Fukushima Medical University unter Leitung von Prof. Dr. Shunichi Yamashita. Dieser hat sehr enge Beziehungen zur Atomindustrie. Aufgefallen ist er durch seine „Beratung“ der Präfektur Fukushima 2011, trotz der radioaktiven Wolken aus dem AKW keine Jodtabletten zu verteilen. Selbst 100 Millisievert im Jahr seien völlig ungefährlich, behauptete er, und dass man, wenn man lächele, keine Folgen radioaktiver Strahlung zu erwarten habe. So ein Verharmloser also führt nun diese Studie durch. Es gibt zahlreiche Beschwerden von Elternverbänden und ÄrztInnen. Im Ergebnis wird die Studie das tatsächliche Risiko sicher unterschätzen. Gleichzeitig jedoch zeigt selbst sie bereits jetzt eine deutlich erhöhte Anzahl von aggressiven Schilddrüsenkrebsfällen, die wir in diesem Maß zu einem so frühen Zeitpunkt nicht erwartet hätten.
Inwiefern?
115 Kinder in der Präfektur mussten bereits operiert werden, weil ihr Krebs sehr aggressiv oder metastasiert war.
Ist das nun viel oder wenig?
Für die Studie wurden etwa 300.000 Kinder untersucht. Da würde man einen Schilddrüsenkrebsfall im Jahr erwarten, das ist der japanische Durchschnitt bei Kindern. Die Studie läuft seit vier Jahren, also hätte man vier Fälle erwartet, und zwar welche, die nicht unbedingt so aggressiv sind, dass man sofort operieren müsste. Stattdessen haben wir nun 115 gesicherte, aggressive Fälle sowie mehr als 100.000 Kinder, deren Zweituntersuchung noch aussteht, sodass die Fallzahl sicher noch steigen wird. Und das ist erst der Anfang, befürchten wir.
Warum?
Wegen der Latenzzeit von Schilddrüsenkrebs. Nach vier Jahren ist erst mit einem langsamen Anstieg zu rechnen. In Tschernobyl sind die Fallzahlen über Jahrzehnte angestiegen.
Es gibt Studien, die versuchen, die insgesamt zu erwartenden Krebserkrankungen abzuschätzen. Darin ist die Rede von bis zu 22.000–66.000 Fällen. Wie passt das zusammen?
Was man bisher sieht, sind ja nur die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern, also eine sehr sehr seltene Form von Krebs, und auch davon nur die allerersten Fälle. Den Großteil der Krebserkrankungen werden aber die weitaus häufigeren Formen wie Brustkrebs, Darmkrebs, Leukämien und Lymphome ausmachen. Nur gibt es keine Studien, die das spezifisch untersuchen. Also werden wir auch in 20 Jahren keine belastbaren Zahlen hierzu haben. Das ist politisch auch nicht gewollt.
Und die zu erwartenden 22.000–66.000 Krebsfälle?
Diese Zahl beruht auf Abschätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur radioaktiven Belastung, der die Menschen in Japan durch den Super-GAU von Fukushima während ihres Lebens ausgesetzt sein werden – multipliziert mit einem Risikofaktor, der die bisherigen Erkenntnisse zu den Folgen radioaktiver Strahlung widerspiegelt. Wobei die Dosisannahmen der WHO wahrscheinlich niedriger sind als die real aufgenommenen Dosen. Wahrscheinlich wird die Zahl der Erkrankungen also noch deutlich höher liegen.
Welche weiteren gesundheitlichen Folgen, jenseits von Krebs, sind aufgrund der Strahlenbelastung zu erwarten?
Das Risko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erkranken, steigt bei radioaktiver Belastung – auch wenn diese nur im Millisievert-Bereich liegt, also in den Größenordnungen, welche die meisten Menschen in Fukushima abbekommen. Darüber hinaus sind genetische Folgen zu erwarten: Nach Tschernobyl hatten wir einen Anstieg des Down-Syndroms, von Fehlbildungen, Totgeburten, Frühaborten. Und es gibt auch Erkenntnisse, dass selbst Kinder von strahlenexponierten Eltern ein erhöhtes Krebsrisiko haben. Das sind alles Sachen, die wir in den nächsten Jahrzehnten erwarten.
Hunderttausende sind in den Tagen und Wochen nach dem Super-GAU evakuiert worden, viele hausen noch immer in Notunterkünften. Wie ist es um deren – auch psychische – Gesundheit bestellt?
Der Verlust der Heimat und vielfach auch der Existenz ist ein gewaltiges Trauma. Bäuerinnen und Bauern, Fischerinnen und Fischer etwa, die nicht mehr arbeiten können, weil alles verseucht ist. Gleichzeitig fühlen sie sich nicht ernstgenommen und im Stich gelassen. Vielen droht eine Streichung der Hilfszahlungen, wenn ihre Heimatstädte für „dekontaminiert“ erklärt werden. Die Regierung will, dass sie dann zurückkehren. Viele Familien, Freundschaften, Nachbarschaften zerbrechen daran, weil etwa die Frau mit den Kindern sagt „Ich will nicht in einer verstrahlten Umgebung leben“ und zu ihren Eltern, Freundinnen oder Freunden zieht, während der Mann seinem Beruf nachgehen muss und zurückbleibt.
Wie effektiv ist die Dekontamination der Städte und Siedlungen?
Die hehren Versprechungen sind längst hinfällig: Man sieht, dass das nicht funktioniert. Der radioaktive Staub muss aus jeder Ritze gefegt und gekratzt werden – schon das ist mühsamste Handarbeit. 70 Prozent der Fläche der Präfektur Fukushima jedoch sind bergiger Wald, den kann man gar nicht dekontaminieren. Das bedeutet aber, dass mit jedem Sturm, Regenschauer und Pollenflug erneut Radioaktivität in die Wohngebiete kommt, auf die Spielplätze, in die Flüsse und auf die Felder. Erst neulich hat eine Studie nachgewiesen, dass es selbst außerhalb der Evakuierungszone immer wieder neue relevante Kontaminationen durch Cäsium‑137 gibt, vermutlich durch unachtsame Arbeiten auf dem Kraftwerksgelände.
Dass Jodtabletten 2011, obwohl vorhanden, nicht verteilt wurden, spricht nicht gerade dafür, dass der Strahlenschutz der Bevölkerung an erster Stelle stand. Wie ist das heute?
Man muss die enorme Macht der Atomlobby in Japan sehen. Die Macht, den Premierminister zu stürzen, weil er nach der Katastrophe gesagt hat: „Wir müssen aus der Atomenergie aussteigen“ – und die Macht, die politische Diskussion soweit zu prägen, dass trotz einer Mehrheit in der Bevölkerung für einen Ausstieg jetzt eine sehr starke Pro-Atom-Regierung wieder bestätigt wurde und erste Reaktoren wieder angefahren werden.
Welches Ziel verfolgt diese Regierung mit Blick auf Fukushima?
Sie will die Akte so schnell wie möglich schließen. Wir haben Berichte von Baseball-Vereinen und Orchestern, die von ihren japanischen Partnern ganz bewusst in die Präfektur Fukushima eingeladen werden. Selbst Teile der olympischen Spiele sollen in Fukushima stattfinden! Das ist ein ganz bewusster Versuch der Regierung, Gras über die Sache wachsen zu lassen und zurück zur Normalität zu kommen. Nicht der Strahlenschutz der Bevölkerung steht da an erster Stelle, sondern die wirtschaftlichen Interessen der Atomlobby.
Das Interview führte Armin Simon
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Fotos aus Fukushima
alle Fotos von Alexander Tetsch aus dem Bildband: Fukushima 360°
Studien zum Thema
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Radiation Reloaded - Ecological Impacts of the Fukushima Daiichi Nuclear Accident 5 years later (3/2016 Greenpeace)
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Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima (2/2016 IPPNW)
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Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima auf die Tierwelt (11/2014 IPPNW)
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Über 100 Schilddrüsenkrebsfälle in der Präfektur Fukushima (8/2014 IPPNW)
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Fukushima-Strahlung höher als angenommen (10/2011 Bericht auf Spiegel Online)