Dipl.-Phys. Oda Becker im Interview über neue Bedrohungsszenarien für Zwischenlager, tödliche Strahlenwolken und gefährliche Geheimniskrämerei.
Frau Becker, Sie haben mögliche Folgen terroristischer Angriffe auf die Zwischenlager in Ahaus und Brokdorf untersucht. Welche Szenarien haben Sie betrachtet?
Oda Becker: Ich habe zuerst zwei Szenarien betrachtet, die auch die Behörden im Genehmigungsverfahren untersuchen: einen gezielten Flugzeugabsturz und einen Angriff mit einer panzerbrechenden Waffe. Darüber hinaus habe ich mir einen Angriff mit sprengstoffbeladenen Drohnen angeschaut, weil das Thema seit dem Beginn des Ukrainekriegs so präsent ist.
Was macht solche Ereignisse besonders gefährlich und worin unterscheiden sie sich?
Bei einem Flugzeugabsturz können große Mengen Kerosin in die Lagergebäude eindringen, was zu einem Brand führen kann. Panzerbrechende Waffen können die Wand eines Castors leicht durchdringen und Kernbrennstoff im Inneren zerstäuben. Drohnen wiederum sind leicht verfügbar, günstig und einfach zu handhaben. Sie können ein Loch in der Außenwand eines Zwischenlagers erzeugen und durch dieses die Behälter beschießen oder sogar in die Halle eindringen. Laut meinen Berechnungen hätten solche Drohnenangriffe die gravierendsten Auswirkungen.
Wie könnten die Folgen eines Drohnenangriffs aussehen?
Beim Zwischenlager Brokdorf würden Menschen bis in 800 Meter eine tödliche Strahlendosis erhalten. Beim Zwischenlager Ahaus wäre die Dosis bis in etwa 250 Meter tödlich, mit zunehmender Entfernung nimmt das Risiko ab. Allerdings liegt das Zwischenlager Ahaus nah am Stadtgebiet. Evakuiert werden müsste dort bis in eine Entfernung von 5 Kilometern, in Brokdorf sogar bis 12 Kilometer. Hier wie dort müssten die Menschen bis in etwa 7 Kilometer Entfernung langfristig umgesiedelt werden. Außerdem wäre die Landwirtschaft bis in weit über 20 Kilometer Entfernung massiv betroffen, zum Beispiel müssten die Felder abgeerntet und die Ernte vernichtet werden.
Könnte man die Menschen rechtzeitig aus dem betroffenen Bereich evakuieren?
Nein, das ist unmöglich. Die Bevölkerung würde die Strahlendosis durch Inhalation unmittelbar nach dem Angriff erhalten.
Die Studie
Die Studie „Mögliche Auswirkungen von Terrorangriffen auf Zwischenlager für hochradioaktiven Abfall“ kannst Du hier herunterladen:
Wie unterscheidet sich die bauliche Situation in Ahaus und Brokdorf?
Die dünnen Wände und Decken im Zwischenlager Ahaus sind ein Problem: Bei einem Flugzeugabsturz würden sie großflächig versagen und ein großer Kerosinbrand würde entstehen. Das stabilere Lager in Brokdorf würde eher Risse bekommen, durch die könnte aber auch Kerosin eindringen. In Ahaus könnten Drohnen relativ leicht ein Loch in der Wand erzeugen, durch das sie sogar in das Gebäude fliegen und von dort aus Behälter beschießen könnten. Ich habe angenommen, dass eine Freisetzung aus drei Behältern resultiert, aber da sind auch noch ganz andere Szenarien denkbar. In Brokdorf bräuchte es dagegen vermutlich mehrere Drohnen, um ein Loch zu erzeugen und die Castoren dort enthalten ein zehnmal höheres radioaktives Inventar als die AVR-Behälter in Ahaus. Trotzdem sind insgesamt die Ergebnisse von der Größenordnung her ähnlich.
Sie arbeiten schon lange zur Sicherheit von Zwischenlagern. Was hat Sie trotzdem überrascht?
Vor allem, wie realisierbar Drohnenszenarien sind. Ich habe für diese Studie mit Prof. Dr. Jutta Weber von der Uni Paderborn zusammengearbeitet, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigt. Drohnen gelten als zukünftiges Mittel der Wahl für terroristische Anschläge. Welche Gegenmaßnahmen realistisch möglich sind, bleibt abzuwarten.

Sind die Ergebnisse des Gutachtens auf die anderen Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle übertragbar?
Ja. Brokdorf steht für die norddeutschen Standort-Zwischenlager, deren Gebäude alle nach dem gleichen Konzept gebaut sind. Die süddeutschen Zwischenlagergebäude haben deutlich dünnere Wände und Decken. Und die in Ahaus und Gorleben sind nochmal weniger robust gebaut.
Die Genehmigungen der deutschen Zwischenlager laufen zwischen 2034 und 2046 aus. Ein „Endlager“ ist voraussichtlich erst in 80 bis 100 Jahren verfügbar. Was bedeutet das im Hinblick auf die Sicherheitsdefizite der Zwischenlager?
Um das bewerten zu können, habe ich mir zusätzlich die Situation in 30 Jahren angeschaut. Insgesamt gibt es nach diesem Zeitraum keinen Sicherheitsgewinn trotz Abnahme der Aktivität durch radioaktiven Zerfall. Im Gegenteil: Die Alterung von Gebäuden, Behältern und Inventar verschärft die Risiken, da mehr Freisetzungen resultieren und sich zudem die Bedrohungsszenarien weiterentwickeln.
Welche Aufgaben ergeben sich daraus für Betreiber, Genehmigungsbehörden und Politik?
Sehr schnell sollten sie die geplante weitere Einlagerung in Ahaus – neben Gorleben das am schlechtesten geschützte Lager in Deutschland – stoppen. Und dann sollten sie überlegen, ob Nachrüstungen geeignet sind, das Risiko zu minimieren oder ob Neubauten erforderlich sind. Auf jeden Fall müssen diese Fragen bei den Neugenehmigungsverfahren eine Rolle spielen, die für einen Langzeitbetrieb der bestehenden Zwischenlager nötig sind.
Das Zwischenlager Brunsbüttel hat seit 2013 keine Genehmigung mehr, weil der Betreiber den Schutz gegen Flugzeugabstürze und Angriffe nicht nachweisen konnte. Ist das ein Einzelfall?
Das Gericht bestätigte damals Bewertungs- und Ermittlungsdefizite. Daher wurde die Genehmigung für Brunsbüttel entzogen. Die gleichen Defizite bestehen aber auch bei allen anderen Zwischenlagern.
Der Betreiber des Zwischenlagers Brunsbüttel versucht, eine neue Genehmigung zu erwirken. Haben Betreiber und Behörden aus der Vergangenheit gelernt?
Sie haben gelernt, sich nach außen besser zu präsentieren und die relevanten Informationen geheim zu halten. Bei den Sicherheitsnachweisen gibt es keine grundlegenden Veränderungen.
Im Juni 2021 hat man der Bevölkerung mit einer Atomgesetz-Novelle die Möglichkeit genommen, den Terrorschutz in atomrechtlichen Genehmigungen von Gerichten überprüfen zu lassen. Was hat das mit dem Brunsbüttel-Urteil zu tun?
Das war eine sehr erschütternde Reaktion auf das Brunsbüttel-Urteil. Weil Defizite bei der Genehmigung nachgewiesen wurden, wurde das Gesetz so geändert, dass Gerichte solche Entscheidungen nun nicht mehr überprüfen können. Außerdem wird jetzt alles unter Verschluss gehalten. Als Sachverständige hatte ich in der Klage gegen das Zwischenlager Brunsbüttel Einblick in die Unterlagen, und ein Gericht hat bestätigt, dass die Sicherheitsnachweise nicht ausreichten. Wir wissen auch, dass seitdem nicht viel passiert ist. Warum sollten wir glauben, dass der Schutz jetzt ausreicht, nur weil er geheim ist – und obwohl es neue Bedrohungsszenarien gibt? Wenn bei einem Angriff keine schwerwiegenden Folgen drohten, könnte der Schutz auch transparent gemacht werden. Davon bin ich überzeugt.
Interview: Anna Stender

Oda Becker
Dipl.-Phys. Oda Becker arbeitet seit rund 25 Jahren als unabhängige Wissenschaftlerin im Bereich Sicherheit und Risiken von Atomanlagen.
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