Deutschland steht vor einer Richtungswahl – auch in der Energiepolitik. Geht der Ausbau der Erneuerbaren zügig voran oder wird die Atomkraft noch einmal aus der Mottenkiste geholt? Ein Blick in die Wahlprogramme.
Zwei Mal bereits hat der Bundestag den Atomausstieg beschlossen – 2001 mit den Stimmen von SPD und Grünen und 2011 mit einer überwältigenden Mehrheit von 513 von 600 Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen (die Linke wollte damals einen schnelleren Atomausstieg).1 Doch fast zwei Jahre nach Abschaltung der letzten AKW ersteht die Atomkraft in den Wahlprogrammen einiger Parteien scheinbar noch einmal zum Leben auf.
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Mix aus Erneuerbaren und Atomkraft
Das steht drin: Die Union2 will eine „ideologiefreie“ und „technologieoffene“ Energiepolitik und setzt dabei auf alles, was „klimafreundlich und systemdienlich“ ist – dazu gehört für sie unter anderem die „Option Kernenergie“. Sie fordert Forschung zu Atomreaktoren der Generation IV und V, SMR und Fusionskraftwerken. Außerdem strebt sie „schnellstmöglich“ eine „fachliche Bestandsaufnahme“ an, ob die zuletzt abgeschalteten Reaktoren „unter vertretbarem technischem und finanziellem Aufwand“ wieder in Betrieb gehen könnten. Am Ziel der Klimaneutralität bis 2045 will sie festhalten.
Das ist davon zu halten: Kanzlerkandidat Friedrich Merz selbst hat eingeräumt, dass bezüglich der abgeschalteten Reaktoren „wahrscheinlich nichts mehr zu machen“3 sei. Betreiber*innen und Expert*innen sehen das ebenso: Der Rückbau läuft, die Kosten wären unkalkulierbar. Zudem müssten Sicherheitsstandards nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik nachgewiesen werden (siehe unten, "Im Rückbau"). Ein Neubau von Reaktoren könnte schon aus zeitlichen Gründen keinen Beitrag zur Klimaneutralität 2045 leisten.
Nahezu alle AKW weltweit gehören zur Generation II. Reaktoren der Generation IV gibt es bisher nicht einmal als Prototyp. Reaktoren der Generation V sind ein Hirngespinst der Union. Insgesamt wirft das plakative Bekenntnis der CDU/CSU zu „Technologieoffenheit“ daher die Frage auf, wie ernst es ihr mit dem Bekenntnis zu erneuerbaren Energien und zur Klimaneutralität ist.
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Kurs auf Klimaneutralität 2035
Das steht drin: Bündnis 90/Die Grünen4 wollen den Anteil der Erneuerbaren bei der Stromproduktion bis 2030 auf 80 %, bis 2035 auf 100 % erhöhen. „Eine Rückkehr zur Hochrisikotechnologie Atomkraft ist weder für das Erreichen der Klimaziele noch für die Versorgungssicherheit notwendig und für uns aufgrund der ungeklärten Endlagerfrage, der Kosten und der Gefahr der Verbreitung von atomwaffenfähigem Material keine Option.“ Die Atomfabriken in Gronau und Lingen müssten schließen, um den Atomausstieg zu vollenden. Einen Einstieg von Rosatom in Lingen lehnen sie ab. Die Endlagersuche erwähnen die Grünen als „eine Herausforderung, der sich das ganze Land stellen muss“. Zudem thematisieren sie die erforderliche Langzeitsicherheit der Zwischenlager. Die Kernfusion wollen die Grünen weiter erforschen.
Das ist davon zu halten: Die Grünen halten zwar an ihrem Kurs des Ausbaus der Erneuerbaren und am Atomausstieg fest. Mit ihrem Bekenntnis zur Forschungsförderung für „neue Energietechnologien wie die Kernfusion“ lassen sie allerdings Raum für neue Atomfantasien, auch für Gegner*innen der Energiewende.
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Bekenntnis zur Energiewende
Das steht drin: Im Wahlprogramm der SPD5 spielt Atomkraft kaum eine Rolle. Sie setzt auf den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Solar- und Windenergie, auf dezentrale Energieerzeugung und Effizienz. Eine Rückkehr zur Atomkraft lehnt sie ab. Die Endlagersuche will die SPD konstruktiv begleiten und diese ohne Kompromisse bei der Sicherheit beschleunigen.
Das ist davon zu halten: Die SPD lässt offen, wie sie die Standortsuche beschleunigen will, ohne dabei die Sicherheit und die Grundprinzipien des partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahrens über Bord zu werfen. Diese jedoch werden für die Akzeptanz der Menschen in der Region entscheidend sein, die das „Endlager“ am Ende beherbergen soll.
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(Irr-)Glaube an wettbewerbsfähige Atomkraft
Das steht drin: Die FDP6 befürwortet die Nutzung „sicherer Kernkraftwerke ohne Subventionen“. Zudem will sie die „Wiederinbetriebnahme der vorhandenen Kernkraftwerke rechtlich ermöglichen“. Das Atomgesetz will sie von „ideologischem Ballast“ befreien, damit SMR und Generation-IV-Reaktoren „rechtssicher gebaut werden können“. Für die Kernfusion will sie einen „innovationsfreundlichen Rechtsrahmen außerhalb des Atomrechts“ schaffen. Statt Ausbauzielen für erneuerbare Energien plädiert die FDP für „Technologieoffenheit“, das Klimaneutralitätsziels verschiebt sie auf 2050.
Das ist davon zu halten: Der Betrieb von AKW ohne staatliche Subventionen ist ein Märchen. Was die abgeschalteten AKW angeht, haben die Betreiber längst abgewunken (siehe Text unten, "Im Rückbau"). Neuartige Reaktoren und Fusionskraftwerke wird es noch Jahrzehnte nicht geben, verantwortlich sind ungelöste technische Probleme und exorbitante Kosten. Dass die FDP Sicherheitsstandards für Atomanlagen schleifen will, ist äußerst bedenklich.
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Radikale Kehrtwende hin zur Atomkraft
Das steht drin: Die AfD leugnet den menschengemachten Klimawandel und hält eine Energiewende daher für überflüssig. Sie fordert eine Rückkehr zur Nutzung von Atomenergie und fossilen Energien.7 Als ersten Schritt will sie die abgeschalteten AKW möglichst schnell zurück ans Netz bringen. „Technologieoffenheit“ bedeutet für die AfD das Ende der Förderung von erneuerbaren Energien, Wärmepumpen, Elektromobilität und Wasserstofftechnik. Stattdessen will sie Kohlekraftwerke ausbauen und die Ostsee-Erdgaspipelines (wieder) in Betrieb nehmen.
Das ist davon zu halten: Die Positionen der AfD stehen im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel und ignorieren die Potenziale erneuerbarer Energien ebenso wie die direkten und indirekten Kosten fossiler und atomarer Energieerzeugung. Die AKW sind im Rückbau (siehe Text unten, "Im Rückbau"). Neue Reaktoren müssten massiv subventioniert werden und wären erst in Jahrzehnten betriebsbereit.
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Kritik an der Energiewende
Das steht drin: Das Bündnis Sarah Wagenknecht8 behauptet, der Atom- und Kohleausstieg habe zu unzureichenden Reservekapazitäten und erhöhten Preisspitzen geführt. Nötig seien daher billiges Erdgas aus Russland und zusätzliche Gaskraftwerke, eine Abkehr vom Ziel der Klimaneutralität und ein Ende der CO2-Bepreisung. Den Neubau herkömmlicher AKW und vorerst auch SMR lehnt das BSW ab, unterstützt aber Forschung und Entwicklung von Fusionskraftwerken.
Das ist davon zu halten: In Deutschland stehen weit mehr wetterunabhängige Kraftwerke bereit, als jemals benötigt wurden (siehe Artikel "AKW aus, Zukunft an"). Der Ausbau der erneuerbaren Energien führt im Jahresschnitt zu sinkenden Strompreisen, bisweilen auftretende Preisspitzen am Spotmarkt ändern daran nichts.
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Die Linke lehnt eine Rückkehr zur Atomkraft ab und setzt auf einen schnellen Umstieg auf Erneuerbare.9 Als einzige Partei will sie zudem Atomkraft und Gas aus der EU-Taxonomie für grüne Investitionen streichen lassen.
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Während Volt noch im Sommer 2024 für Investitionen in „neue“ Reaktortechnik warb, fordert die Partei in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 100 % Erneuerbare bis 2035.10 Eine Anfrage von .ausgestrahlt zu dieser möglichen Kehrtwende blieb unbeantwortet.
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Die ÖDP lehnt eine Atom-Renaissance ab und fordert ausdrücklich, alle verbleibenden Atomanlagen abzuschalten.11
Quellen
- Plenarprotokoll des Bundestags vom 30.06.2011, S. 13413.
- Wahlprogramm der CDU/CSU, 2024.
- FAZ, 13.01.2025.
- Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen, 2025.
- Wahlprogramm der SPD, 2024.
- Wahlprogramm der FDP, 2024.
- Wahlprogramms der AFD, 2025.
- Wahlprogramm des BSW, 2024.
- Wahlprogramm der Linken, 2024.
- Wahlprogramm von Volt, 2024.
- Wahlprogramm der ÖDP, 2025.
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Im Rückbau
Alle sechs Ende 2021 (Brokdorf, Grohnde, Gundremmingen C) bzw. im April 2023 (Emsland, Isar 2, Neckarwestheim 2) abgeschalteten AKW befinden sich inzwischen aktiv im Rückbau. Als letztes hat das AKW Brokdorf im Dezember 2024 seine Stilllegungs- und Abbaugenehmigung (SAG) erhalten und unmittelbar darauf in Anspruch genommen. Damit sind die Betriebsgenehmigungen aller deutschen AKW unwiderruflich erloschen.
Um die Strahlenbelastung des Rückbau-Personals zu minimieren, haben alle AKW schon kurz nach dem Abschalten den Reaktorkreislauf mit aggressiven Chemikalien durchspült. Diese „full system decontamination“ löst radioaktive Partikel, greift allerdings das Material so an, dass dessen Stabilität anschließend nicht mehr nachgewiesen ist. Inzwischen sind die Rückbauarbeiten überall in vollem Gang: Rohrleitungen werden abgetrennt, Pumpen und Generatoren ausgebaut, Kühlsysteme und Reaktorkerneinbauten demontiert, Sicherheitssysteme außer Betrieb genommen, Mauern eingerissen, Kühltürme gesprengt. „Irreversibel“ sei der Rückbau, heißt es bei EnBW, man sei „über den Punkt hinaus“, erklärt RWE. Eon-Tochter Preussenelektra unterstreicht, „schnell und effizient“ rückzubauen, eine Wiederinbetriebnahme sei „ausgeschlossen“ und „definitiv vom Tisch“: In Isar 2 sind alle vier Hauptkühlmittelpumpen bereits ausgebaut.1
Rechtlich wäre eine Wiederinbetriebnahme von AKW nur nach einer Neugenehmigung möglich. Der Antragsteller müsste dabei nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachweisen, dass der jeweilige Reaktor und seine Sicherheitseinrichtungen dem heute aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen. Das ist bei keinem der in den 70er und 80er des letzten Jahrhunderts gebauten Reaktoren der Fall und auch mit aufwändigen Nachrüstungen nicht zu erreichen. Mehr dazu in der gutachterlichen Stellungnahme des ehemaligen Chef-Atomaufsehers im Bundesumweltministerium, Wolfgang Renneberg:
ausgestrahlt.de/gutachten-wiederinbetriebnahme
Armin Simon
1 BR24, 21.11.2024; taz.de, 10.01.2025; spiegel.de, 17.01.2025; tag24.de, 26.10.2023
Schwerpunkt-Thema Bundestagswahl 2025
Diese Artikel gehören zur Serie über die Bundestagswahl 2025 aus dem .ausgestrahlt-Magazin 63:
- Meinungskampf auf totem Pferd (Einleitung)
- AKW aus, Zukunft an (Hintergrund)
- Atomausstieg vollenden (20 atompolitische Forderungen)
- Fortschritt oder Rückschritt? (Analyse der Wahlprogramme)
weiterlesen:
- Booster für die Energiewende
21.06.2024: Ein Jahr nach Abschaltung der letzten AKW sind die Erneuerbaren im Aufschwung, die Kohleverstromung ist drastisch zurückgegangen – Früchte des jahrzehntelangen Kampfs Hunderttausender gegen Atomkraft und für die Energiewende. Ein Überblick. - Rumpelstilzchen und der Loslass-Schmerz
26.04.2024: Die Erneuerbaren haben die AKW längst ersetzt, die Reaktoren sind im Rückbau. Selbst weltweit spielt Atomkraft nur noch eine marginale Rolle. Doch die Rechten wüten weiter gegen die Energiewende. Heute: die angeblichen #AKWfiles - Ein Jahr ohne AKW – Wie gut!
11.04.2024: Das Abschalten der letzten deutschen AKW am 15. April 2023 war gut für die Menschen in Deutschland, vermindert die atomaren Gefahren und macht den Weg frei für die Energiewende.