Zwei Jahre nach dem Abschalten der letzten drei von einst 36 AKW treten gleich vier Parteien im Wahlkampf für Atomkraft und eine Wiederinbetriebnahme von Reaktoren ein. Fallen wir zurück ins Atomzeitalter?
Zwei Jahre nach dem Abschalten der letzten drei von einst 36 AKW treten gleich vier Parteien im Wahlkampf für Atomkraft und eine Wiederinbetriebnahme von Reaktoren ein. Fallen wir zurück ins Atomzeitalter?
Bei EnBW haben sie sogar ein Foto von der Szene gemacht: eine große Säge, die ein mannshohes Rohr zweimal durchtrennt hat. Das tonnenschwere Stück Primärkreislauf schaukelt am Kranhaken. Alle sollen sehen: Neckarwestheim 2, der Reaktor, der am 15. April 2023 um kurz vor Mitternacht als letzter in Deutschland vom Netz ging, ist im Rückbau. Er wird zersägt. Er ist aus und er bleibt aus.
Das war lange geplant, lange angekündigt. Hunderttausende haben jahrzehntelang für das Abschalten der Reaktoren gekämpft. Es ist gesetzlich vorgeschrieben und im finanziellen Interesse ihrer ehemaligen Betreiber, die Anlagen nun unverzüglich zurückzubauen. Aber offensichtlich ist es noch nicht bei allen wirklich angekommen.
Ein Phantom ist zurück. Es gibt eine bizarre Diskrepanz dieser Tage zwischen dem, was in den vor Jahren abgeschalteten AKW passiert und dem, wie über sie geschrieben, geredet und erörtert wird. Man werde Atomkraft „wieder auf die Tagesordnung setzen“, tönt CDU-Populist Jens Spahn. Im Wahlprogramm kündigen CDU und CSU an, „schnellstmöglich“ die Möglichkeit einer „Wiederaufnahme des Betriebs“ der AKW prüfen zu wollen, die FDP will diese „rechtlich ermöglichen“, die AFD, dass sie „so schnell wie möglich wieder in Betrieb genommen werden“.
Das genügt, damit auch die Presse das Thema aufgreift. „Hat Atomkraft (doch) eine Zukunft?“, fragt tagesschau.de. „Stimmt das eigentlich, dass eine Rückkehr zur Atomkraft sinnvoll wäre?“, räsoniert die Zeit. „Kommt die Atomkraft zurück?“, raunt der Spiegel, erst eine Woche später ordnet ein Kommentar die Atom-Ankündigungen in den Wahlprogrammen als „nukleare Luftschlösser“ ein.
Denn weder mit der Realität der Reaktoren, die längst unumkehrbar im Rückbau sind und ihre Betriebsgenehmigung auch durch Gesetzesakt nicht einfach wieder erlangen können (siehe Infokasten "Im Rückbau" im Artikel "Fortschritt oder Rückschritt?"), noch mit der Energiewirtschaft, die sich seit Jahren auf erneuerbare Energien ausrichtet, hat all das Gerede etwas zu tun. In der tatsächlichen Welt gibt es, jedenfalls auf liberalisierten Energiemärkten und ohne Subventionen, keinen Platz, kein Kapital, keine Investoren, keine Rendite und keinen Bedarf für Atomkraftwerke. Dies gilt noch einmal mehr, wenn sie die von ihnen verursachten Risiken und Kosten selber tragen müssten. Platz für Atomkraft gibt es nur dort, wo jemand politisch mit ihr punkten will und keine Rücksicht auf die Realität nehmen will oder muss: in Parteiprogrammen, in Kolumnen, in Kommentarspalten und Social-Media-Posts. Es ist ein Meinungskampf auf totem Pferd.
Atomkraft im Kulturkampf
Den aber führen die Atom-Fans mit Verve. Die Union zieht im Sommer sogar das schärfste Schwert des Parlaments. Der von ihr beantragte Untersuchungsausschuss „Atomausstieg“ soll eine angebliche „Täuschung der Öffentlichkeit“ beim Abschalten der AKW im April 2023 nachweisen, um das Atom-Aus in Misskredit zu bringen. 350.000 Seiten Akten durchwühlen die Parlamentarier*innen, 40 Zeug*innen laden sie vor. Am Ende bleibt es, was es von Anfang an war: ein parteitaktischer Sturm im Wasserglas.
Schädlich für die Energiewende bleibt die Debatte trotzdem. Denn auch wenn es, den Schlagzeilen nach, vor allem um Atomkraft geht, so ist doch in erster Linie die Energiewende als Ganzes das eigentliche Ziel der Pro-Atom-Attacken. Sie ist es, die durch das Gerede von Atomkraft und Kernfusionsreaktoren als angeblichen Alternativen in Gefahr und in Verzug gerät.
Zwar ist in diesen Zeiten nicht einmal ausgeschlossen, dass selbst absurdeste Vorschläge doch noch zur Umsetzung kommen. Wenn die Atomdebatte von so vielen (und relevanten) Akteuren, und sei es nur aus politischen Motiven, wieder vom Zaun gebrochen wird, müssen wir damit rechnen, dass es auch Versuche geben wird, diesen Ankündigungen und Plänen Taten folgen zu lassen und etwa neue Atomprojekte aufzugleisen. Atomphantastereien eignen sich hervorragend, um Milliarden darin zu versenken.
Wahrscheinlicher aber ist, dass es am Ende weniger um den Neubau irgendwelcher noch nicht erfundener Reaktoren gehen wird, als darum, ob und wie die erneuerbaren Energien zügig und effizient weiter ausgebaut werden, ob und wie das Energiesystem weiter umgebaut, ob und wie hinderliche Regeln endlich angepasst werden, ob und wie die vorhandenen Potenziale von Nachfragemanagement und regelbaren Kraftwerken sinnvoll genutzt und die noch fehlenden ergänzt werden. Das Abschalten der AKW ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Energiewende. Die Energiewende erfährt bis heute große Zustimmungswerte. Das Gerede von Atomkraft zielt letztlich auf sie.
Schwerpunkt-Thema Bundestagswahl 2025
Diese Artikel gehören zur Serie über die Bundestagswahl 2025 aus dem .ausgestrahlt-Magazin 63:
- Meinungskampf auf totem Pferd (Einleitung)
- AKW aus, Zukunft an (Hintergrund)
- Atomausstieg vollenden (20 atompolitische Forderungen)
- Fortschritt oder Rückschritt? (Analyse der Wahlprogramme)
Jahrestage
Fukushima & Tschernobyl
Am 11. März jährt sich der Super-GAU von Fukushima (2011), am 26. April die Atomkatastrophe von Tschernobyl (1986) und am 15. April das AKW-Aus in Deutschland (2023).
Demonstrationen & Aktionen
- So, 09.03., Berlin, Kazaguruma-Demo, Start um 12 Uhr am Pariser Platz/ Brandenburger Tor
- Sa, 15.03., Hamburg, Start 14 Uhr am Hauptbahnhof/Spitaler Straße
- Sa, 26.04., Neckarwestheim
Mehr Infos und weitere Termine unter ausgestrahlt.de/jahrestage
Material für Mahnwachen, Infostände und Aktionen findest Du im ausgestrahlt.de/shop
Online-Ausstellung
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Über die Folgen der beiden bisher größten Atomkatastrophen weltweit in Tschernobyl (1986) und in Fukushima (2011) informiert die Online-Version der .ausgestrahlt-Ausstellung „Fukushima, Tschernobyl und wir“
Koalitionsverhandlungen
Der Fukushima-Jahrestag fällt unter Umständen mit den Koalitionsverhandlungen der neuen Bundesregierung zusammen.
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weiterlesen:
- Booster für die Energiewende
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26.04.2024: Die Erneuerbaren haben die AKW längst ersetzt, die Reaktoren sind im Rückbau. Selbst weltweit spielt Atomkraft nur noch eine marginale Rolle. Doch die Rechten wüten weiter gegen die Energiewende. Heute: die angeblichen #AKWfiles - Ein Jahr ohne AKW – Wie gut!
11.04.2024: Das Abschalten der letzten deutschen AKW am 15. April 2023 war gut für die Menschen in Deutschland, vermindert die atomaren Gefahren und macht den Weg frei für die Energiewende.