Bloß weg damit

23.10.2024 | Sophia Hansen
Protest in Jülich am 15. Oktober 2023 gegen die geplanten Castor-Transporte nach Ahaus
Protest in Jülich am 15. Oktober 2023 gegen die geplanten Castor-Transporte nach Ahaus
Foto: Hubert Perschke

Ein neues Zwischenlager in Jülich könnte längst stehen, wenn Politik und Eigentümer des Atommülls Verantwortung übernehmen würden. Eine Chronik.

In einer Halle auf dem Gelände des Forschungszentrums Jülich (FZJ), einst ein Hotspot der Atomforschung in Deutschland, stehen seit den 1990er Jahren 152 Castoren mit abgebrannten Brennelementen des havarierten Hochtemperatur- und Kugelhaufenreaktors AVR Jülich. Die Genehmigung des AVR-Behälterlagers ist bis Mitte 2013 befristet. Sechs Jahre vor Ablauf muss das FZJ nachweisen, wo der Atommüll anschließend bleiben soll. Da ein „Endlager“ Mitte der Nullerjahre nicht in Sicht ist, beantragt das FZJ 2007 eine Verlängerung der Genehmigung des Behälterlagers – wie es 2009 präzisiert, soll diese für nur drei Jahre gelten. Gleichzeitig prüft es von Anfang an die Möglichkeit, die Castorbehälter ins Zwischenlager Ahaus zu transportieren.

Insbesondere der für die Verlängerung geforderte Nachweis der Erdbebensicherheit – nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik – erweist sich allerdings als sehr aufwendig. Das FZJ stellt die Arbeiten ein und legt 2010 das Genehmigungsverfahren auf Eis. Stattdessen will es die 152 Castoren nun offenbar noch vor Ablauf der alten Genehmigung ins Zwischenlager Ahaus transportieren.

Wunsch und Wirklichkeit

Auch dafür jedoch sind selbstverständlich Sicherheitsnachweise und Genehmigungen nötig. Als sich abzeichnet, dass das FZJ auch die Einhaltung neuer Sicherheitsregeln in Ahaus nicht rechtzeitig nachweisen kann, schwenkt es 2012 abermals um: Nun will es parallel auch das Verfahren für die Genehmigungsverlängerung des Lagers in Jülich wieder aufnehmen. Außerdem soll erstmals ein Konzept für einen Neubau vor Ort entwickelt werden, der den Müll so lange aufnehmen könnte, bis ein „Endlager“ zur Verfügung steht.

Kurz darauf bringt das FZJ eine weitere Option ins Spiel: Den Export des hochradioaktiven Atommülls in die USA, zum Atomwaffenkomplex Savannah River Site. Eine dort noch zu entwickelnde Anlage könne das Uran und Plutonium vom Grafit der Brennelemente  dann abtrennen und „wiederaufarbeiten“ – ein gefährliches und äußerst umweltschädliches Vorhaben. Auch hier jedoch gibt es rechtliche Hürden. Denn das Atomgesetz untersagt seit 2005 Transporte abgebrannter Brennelemente aus AKW zu Wiederaufarbeitungsanlagen. Und der AVR war ein von Energieversorgungsunternehmen durchaus auch in kommerzieller Absicht gebauter Versuchsreaktor, der Strom ins Netz gespeist hat. Trotz alledem erscheint dem FZJ der Atommüll-Export über den Atlantik offenbar so attraktiv, dass es das Verfahren für einen Transport nach Ahaus auf Eis legt und sich ganz auf die USA-Idee konzentriert. Um den Müll exportieren zu können, will das FZJ den AVR kurzerhand zum „Forschungsreaktor“ umdeklarieren – doch dabei ziehen nicht alle mit. Auch in den USA sorgen die Pläne aus Jülich für Protest.

Drei Optionen und keine Entscheidung

Als im Sommer 2013 die Genehmigung des AVR-Behälterlagers ausläuft, ist die Erdbebensicherheit noch immer ungeklärt und für den Atommüll keine schnelle Lösung in Sicht. Die NRW-Atomaufsicht ordnet an, dass die Brennelemente vorerst in Jülich bleiben sollen. Gleichzeitig gibt sie dem FZJ auf, so schnell wie möglich eine neue Genehmigung zu erwirken. Als ein ganzes Jahr später immer noch unklar ist, ob das in absehbarer Zeit möglich ist, ordnet die Atomaufsicht schließlich an, das Lager „unverzüglich“ zu räumen.

Im Herbst 2014 legt das FZJ ein Räumungskonzept vor. Erster Schritt ist in jedem Fall eine neue Genehmigung für das bestehende Lager, als Interimslösung. Dann sollen die Brennelementkugeln entweder nach Ahaus, in die USA oder in ein neu zu bauendes Zwischenlager vor Ort in Jülich gebracht werden. FZJ, Genehmigungsbehörde, Ministerien und Atomaufsicht können sich jedoch nicht auf eine dieser Optionen festlegen.1 Das FZJ will die Neubau-Option verwerfen und sich auf den Export in die USA konzentrieren. Auch das Bundesforschungsministerium befürwortet den Abtransport der Brennelemente – entweder in die USA oder alternativ nach Ahaus – offiziell, weil es diese Optionen für schneller umsetzbar hält. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) will, dass das FZJ auch die Neubau-Option weiterverfolgt. Ein Gutachten im Auftrag des NRW-Wirtschaftsministeriums hält es nicht für sinnvoll, zu diesem Zeitpunkt bereits eine der Optionen zu verwerfen.

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2015 lagert das FZJ seine Atomanlagen und die Verantwortung für den Atommüll an die neugegründete Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN) aus. Diese verfolgt jahrelang formal alle drei Optionen. Real jedoch schwankt sie zwischen Ahaus und USA hin und her. Ein Neubau in Jülich – die sicherste und im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendste Option – hat zu keinem Zeitpunkt Priorität.

Die JEN begründet dies damit, dass zunächst zu klären sei, wie die Erdbebensicherheit des Bestandslagers und damit auch eines Neubaus nachgewiesen werden könne. Doch selbst als 2018 feststeht, wie der Nachweis zu führen ist, bleibt Jülich eine Scheinoption. Das verrät ein Bericht des Bundesrechnungshofes (BRH), der die angefallenen Kosten nach Optionen aufschlüsselt.2 Zwischen September 2015 und August 2021 hat die JEN nach eigenen Angaben 17,7 Millionen Euro für die Ahaus-Option und 10,9 Millionen Euro für die Vorbereitung eines Exports der Kugeln in die USA investiert. Für einen Neubau in Jülich sind gerade einmal 62.300 Euro angefallen. Bis 2022 hat die JEN bereits die Hälfte der insgesamt für die Räumung des Behälterlagers eingeplanten 212 Millionen Euro ausgegeben3, ohne dass die Neubau-Pläne wesentlich vorangekommen oder auch nur ein einziger Castorbehälter aus dem Lager geholt worden wäre.

Fragwürdige Kostenschätzung

Politik und Behörden sehen die Schuld dafür vor allem bei der JEN. Das Bundesumweltministerium wirft ihr vor, so schreibt der BRH, „durch ihre wiederholt geänderte Antragsstellung in den Genehmigungsverfahren […] zu einer erheblichen Ressourcenbindung und insgesamt zu einer Lösungsverzögerung beigetragen“ zu haben. Nachweise seien weder rechtzeitig noch in der notwendigen Qualität vorgelegt worden. Allerdings sind Bund und Land Gesellschafter der JEN und mit mehreren Ministerien in deren Aufsichtsrat vertreten; den Vorwurf, dass sie zu einer Entscheidungsfindung ebenfalls nicht genug beigetragen haben, erhebt auch der BRH.

Im Sommer 2022 bewerten die Bundesministerien für Umwelt, für Forschung und für Finanzen die Ahaus-Option als „grundsätzlich vorzugswürdig“. Grundlage für diese Entscheidung sind fragwürdige Kostenschätzungen der JEN, die unter anderem die Polizeikosten für den nötigen Schutz der 152 Transporte außen vor lassen. Die USA-Option wird endgültig ad acta gelegt.

Die NRW-Landesregierung, die sich im Koalitionsvertrag gegen Atommülltransporte und für einen Neubau in Jülich ausspricht, hat bis heute kaum konkrete Schritte dafür unternommen. Als im Sommer 2022 die Erdbebensicherheit des Bestandslagers nachgewiesen ist und damit der Hauptgrund für die Räumungsanordnung von 2014 entfällt (siehe Artikel „Auf Teufel komm raus“), bleibt die NRW-Atomaufsicht untätig. Sie enthält diese Information sogar der Öffentlichkeit vor – dabei belegen sie auch, dass ein erdbebensicherer Neubau in Jülich möglich wäre. Während die Landesregierung offiziell nicht von ihrer Position abrückt, sie wolle einen Neubau, lässt sie die JEN unbehelligt den Abtransport des Atommülls nach Ahaus vorantreiben. Das Grundstück in Jülich zum Bau eines Zwischenlagers hat die JEN nie gekauft, obwohl das Land das Geld dafür bereitgestellt hat. Eine Genehmigung für einen Neubau hat sie bis heute nicht beantragt.

Dieser Artikel erschien erstmals im .ausgestrahlt-Magazins 62 und gehört zum Schwerpunkt: Wer stoppt die Castor-Lawine?

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Sophia Hansen

Sophia Hansen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit den Themen Atomkraft, Atomausstieg und erneuerbare Energien.

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