Dienst nach Vorschrift

31.05.2024 | Anna Stender
Ein „systematisches“ Zerbröseln des hochradioaktiven Inhalts sei nicht zu besorgen, heißt es
Ein „systematisches“ Zerbröseln des hochradioaktiven Inhalts sei nicht zu besorgen, heißt es
Foto: Vattenfall

Was passiert mit dem hochradioaktiven Atommüll, wenn die Genehmigungen für Zwischenlager und Castoren in wenigen Jahren auslaufen? Das ist weiterhin ungeklärt – und die Politik lässt sich Zeit.

Als erstes ist das zentrale Zwischenlager in Gorleben dran: Seine Genehmigung läuft 2034 aus – in zehn Jahren also. 2036 folgt das Lager in Ahaus und in den 2040er Jahren sind die Standort-Zwischenlager an der Reihe.01 Die Uhr tickt: Die Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ), die fast alle Lager betreibt, muss spätestens acht Jahre vor Ablauf der Genehmigungen darlegen, wie es mit dem eingelagerten Atommüll weitergehen soll (bei den Lagern in Gorleben und Ahaus sind es sechs Jahre). Dass der Atommüll deutlich länger zwischenlagern muss als ursprünglich geplant – nicht nur ein paar Jahre länger, sondern 80 Jahre oder mehr – ist ein Problem für die Zwischenlager-Hallen. Sie bieten bereits heute wenig Sicherheit. Auch die Castor-Behälter sind nicht für diese lange Lagerdauer konzipiert.

Wie geht es also weiter? Derzeit sieht alles danach aus, als wollten Politik und BGZ den Müll einfach in den Hallen stehen lassen. Eine Verlängerung der Genehmigungen ist allerdings nicht möglich – man ging davon aus, dass die letzten Castor-Behälter nach höchstens 40 Jahren Richtung „Endlager“ rollen würden. Die Latte für eine Neugenehmigung aber liegt hoch: Der Betreiber muss für jedes einzelne Lager nachweisen, dass es dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Auch eine Öffentlichkeitsbeteiligung mit Prüfung der Umweltverträglichkeit ist nötig, ebenso wie die Zustimmung des Bundestags. Selbst der Status quo lässt sich also nur mit erheblichem Aufwand erhalten.

Große Herausforderungen

Dass sowohl die Hallen selbst als auch die Behälter und deren Inhalt immer älter werden, wird in den Verfahren eine viel größere Rolle spielen müssen als bei der ersten Genehmigung. Die Sicherheitsnachweise für die Castor-Behälter gelten für einen Zeitraum von 40 Jahren – die ersten laufen bereits 2032 aus. Sie basieren vor allem auf Rechenmodellen und werkstofftechnischen Untersuchungen. Die BGZ macht zwar viel Lärm um ihr Forschungsprogramm für die verlängerte Zwischenlagerung,02 doch ist dieses bei Weitem nicht ausreichend. Denn ob es in den Castor-Behältern wirklich so aussieht, wie vor Jahrzehnten vorhergesagt, ist keineswegs sicher. Berechnungen und die Untersuchung von Einzelaspekten können die komplexen Vorgänge im Inneren der Behälter nicht ausreichend abbilden. Statt repräsentative Behälter zu öffnen und zu untersuchen, sollen die Castoren als Blackboxes stehen bleiben.03 Das Bundesumweltministerium (BMUV) teilte auf Anfrage von .ausgestrahlt mit, es sei „kein systematisches Versagen der Behälterdichtsysteme, der Behältereinbauten sowie der Integrität der bestrahlten Brennelemente oder verglasten hochradioaktiven Abfälle zu besorgen“.

Auch die Gebäude selbst sind heute neuen Risiken ausgesetzt, die in einem Neugenehmigungsverfahren eine Rolle spielen müssen. Bestimmte Terror- oder gar Kriegsszenarien scheinen heute – leider – viel wahrscheinlicher als noch vor wenigen Jahrzehnten. Auch könnten neue Waffensysteme wie etwa Drohnen zum Einsatz kommen.

Bedingungen ungeklärt

Die Neugenehmigung der Zwischenlager ist also nichts weniger als ein Mammutprojekt. Phasenweise werden bis zu elf solcher Verfahren gleichzeitig laufen. Ein spezifisches Regelwerk für die verlängerte Zwischenlagerung wäre daher sinnvoll. Das schlägt die Entsorgungskommission (ESK) vor; auch Bundesumweltministerium, Atommüll-Bundesamt (BASE) und BGZ halten es für sinnvoll.04 Die Zeit drängt allerdings: Spätestens wenn das erste Verfahren startet, muss klar sein, welche Sicherheitsanforderungen künftig gelten sollen und auf welche Weise und in welchem Umfang der Betreiber die Sicherheit gewährleisten und nachweisen muss. Legt man die von ESK und BASE auf acht Jahre geschätzte Dauer für ein Genehmigungsverfahren zugrunde, müsste das erste schon 2026 starten.

Keine Priorität

Entsprechend wichtig wäre jetzt, unverzüglich ein umfassendes Konzept für die Lagerung des hochradioaktiven Abfalls bis zur sogenannten „Endlagerung“ zu entwickeln, bei dem die Sicherheit der Bevölkerung an oberster Stelle steht. Denkbar wären etwa robuste Neubauten an allen Standorten. Diese sollten auch ermöglichen, defekte Behälter zu reparieren und ihren Inhalt zu überprüfen. Die Entwicklung eines solchen Gesamtkonzepts bedarf einer Öffentlichkeitsbeteiligung mit echten Mitbestimmungsrechten, um einen gesellschaftlichen Konsens über den Umgang mit den strahlenden Hinterlassenschaften der Atom-Ära zu erreichen.

Doch für all das ist nicht einmal ein Plan in Sicht. Das Bundesumweltministerium etwa überarbeitet derzeit das Nationale Entsorgungsprogramm (NaPro, siehe Infokasten unten). Der Entwurf liegt .ausgestrahlt vor. Er lässt nicht erwarten, dass in der Endfassung substanziell Neues zur verlängerten Zwischenlagerung zu lesen sein wird. Bis heute ist unklar, für welchen Zeitraum neue Genehmigungen überhaupt beantragt werden sollen. Auch das BASE, zuständig für die Genehmigungsverfahren, ist bisher nicht mit konkreten Vorschlägen an die Öffentlichkeit gegangen. Das Ministerium teilte mit, es habe in Zusammenarbeit mit dem BASE „mit der Erstellung eines Regelwerks für die erforderlichen Sicherheitsnachweise für die verlängerte Zwischenlagerung begonnen“.

In der Pipeline

Das Bundesumweltministerium überarbeitet derzeit das Nationale Entsorgungsprogramm (NaPro), das voraussichtlich im August erscheinen wird. Alle drei Jahre muss die Bundesregierung darin der EU-Kommission den geplanten Umgang mit dem Atommüll in Deutschland erläutern.

Das von Anti-Atom- und Umweltorganisationen, darunter auch .ausgestrahlt, getragene Projekt Atommüllreport stellt dem NaPro seit 2013 eine eigene, realistischere Bestandsaufnahme entgegen. Auch diese wird aktuell überarbeitet und soll im Laufe des Jahres veröffentlicht werden.

Ebenfalls noch in diesem Jahr stellt die Atommüllkonferenz (AMK) ein neues Positionspapier zur Zwischenlagerung mit Forderungen an die Politik vor. Die AMK ist ein fachlich-politisches, parteiunabhängiges Forum für Betroffene, kritische Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen von Anti-Atom- und Umwelt-Organisationen.

Quellen

01 Die Zwischenlager in Jülich und Brunsbüttel, die seit 2013 bzw. 2015 keine Genehmigung mehr haben, werden derzeit auf Basis ministerieller Anordnungen weiterbetrieben und sind nicht in die Zuständigkeit der BGZ übergegangen.
02 BGZ 2023
03 ESK 2023, S. 5
04 ESK 2023, S. 16

Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 61 (Juni-September 2024)

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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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