Schein und Sein

27.05.2024 | Armin Simon
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Foto: KI, Holger M. Müller

In etlichen EU-Staaten laufen Debatten über Atomkraft und neue AKW. Tatsächlich ausgebaut aber werden nahezu ausschließlich die erneuerbaren Energien. Ein Blick auf die Realität.

Wie hat sich die Stromerzeugung in den EU-Ländern in den vergangenen 20 Jahren verändert? Gibt es eine „Renaissance“ der Atomkraft? Wo klappt der Ausbau von Wind- und Solarkraftwerken am besten? Und was hat das mit der Atompolitik der jeweiligen Länder zu tun? .ausgestrahlt hat für alle EU-Länder die Stromerzeugung im Jahr 2023 mit der 20 Jahre zuvor verglichen. Eine Auswahl der Ergebnisse findest Du hier, weitere ergänzen wir in Kürze in diesem Artikel.

Wie die Zahlen zeigen, ist die fossile Stromerzeugung durchgängig rückläufig, die EU-weite Stromerzeugung aus Atomkraft ebenfalls (siehe Infografik). Von einer „Renaissance“ der Atomkraft in der EU kann keine Rede sein. Im Gegenteil: In den drei EU-Ländern mit der am Abstand größten Atomstromproduktion – Frankreich, Spanien, Schweden – ist diese in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum Teil drastisch zurückgegangen.

Ausgebaut werden überall  die erneuerbaren Energien – auch in den Ländern, die permanent von Atomkraft reden. Selbst Finnland, Rumänien, Tschechien und Ungarn, die als einzige im Jahr 2023 relevant mehr Atomstrom erzeugt haben als noch 2003, haben im selben Zeitraum ihre Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien deutlich stärker gesteigert.

Die Atompolitik hat allerdings Einfluss auf das Tempo, mit dem Energiewende und Klimaschutz vorankommen. In den Ländern, die weiter auf Atomkraft setzen, ist der Ökostromanteil meist geringer und/oder die erneuerbaren Energien wachsen merklich langsamer als anderswo – mit gravierenden Folgen: Würden die Erneuerbaren jeweils mit derselben Rate weiter ausgebaut wie im Schnitt der vergangenen 20 Jahre, wären viele EU-Länder schon in weniger als zehn Jahren rechnerisch bei einem Ökostrom-Anteil von 100 Prozent. Sie würden dann jedes Jahr mehr erneuerbaren Strom erzeugen, als sie heute Strom verbrauchen. Das Anti-Atom-Land Dänemark könnte dieses Ziel sogar schon in vier Jahren erreichen. In den Atomkraft-Ländern Bulgarien, Finnland, Rumänien, Slowenien und Tschechien hingegen dauert dieselbe Entwicklung um die 20, in Frankreich gar 32 und in der Slowakei gar 44 Jahre: Atomkraft behindert die Energiewende.

Polen

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Atom-Ankündigungen: Bau von bis zu 6 AKW (davon 3 angekündigt seit 2009), plus etliche small modular reactors (SMR)
Atom-Realität: AKW-Ruinen aus den 1980er Jahren nie vollendet; ein erstes AKW würde frühestens 2040 Strom erzeugen, Finanzierung ungeklärt;1 SMR-Projekte stehen in den Sternen
Ökostrom-Anteil: 27 %, stark steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 16 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 9 Jahren
Erneuerbaren-Realität: neue Regierung hebt Blockade der Windenergie an Land auf; mehrere Offshore-Windparks in der Ostsee kurz vor Baubeginn; Solarstrom-Erzeugung binnen fünf Jahren vervierzigfacht

Niederlande

Niederlande.png

Atom-Ankündigungen: Bau von bis zu 4 AKW, plus SMR
Atom-Realität: Laufzeitverlängerung für einen Uralt-Reaktor (51 Jahre!) mit potenziell rissigen Dampferzeuger-Rohren über 2033 hinaus beantragt; neue Reaktoren würden am möglichen Standort die Windstromeinspeisung aus Offshore-Windparks behindern; SMR-Projekte stehen in den Sternen
Ökostrom-Anteil: 50 %, stark steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 14 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 6 Jahren
Erneuerbaren-Realität: 2023 Inbetriebnahme des weltgrößten Offshore-Windparks nach nur zwei Jahren Bauzeit; weitere in Bau und Planung

Frankreich

Frankreich.png

Atom-Ankündigungen: Bau von 6 plus evtl. 8 weiteren Reaktoren vom Typ EPR2, plus SMR
Atom-Realität: 55 Reaktoren mit hoher Ausfallrate und gefährlichen Rissen, Durchschnittsalter > 39 Jahre, Laufzeitverlängerungen angestrebt; Atomindustrie wegen Überschuldung verstaatlicht und nur mit Steuer-Milliarden gerettet; ein einziges AKW (Typ EPR) seit 2007 in Bau, mit explodierenden Kosten, gravierenden Sicherheitsdefiziten und Reparaturbedarf schon vor Inbetriebnahme; Nachfolgemodell EPR2 existiert nur als Grobskizze, früheste Inbetriebnahme eines ersten Reaktors laut Regierungsvermerk 2039–2043 – aber nur, wenn alles glattläuft und die Regierung Milliarden zuschießt;2 vehementer Kampf auf EU-Ebene um atomfreundliche Regelungen und Finanzierungsmöglichkeiten für AKW
Ökostrom-Anteil: 29 %, bisher nur schwach steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 4 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 32 Jahren
Erneuerbaren-Realität: gesetzliche Pflicht zur Überdachung großer Parkplätze mit Solaranlagen wird binnen weniger Jahre doppelt soviel Strom liefern wie das Neubau-AKW; Photovoltaik-Pflicht für Nichtwohngebäude beschlossen; Offshore-Windparks mit mehreren Gigawatt Leistung in Bau, weitere in Vorbereitung3

Belgien

Belgien.png

Atom-Ankündigungen: Bau von SMR
Atom-Realität: Atomausstieg in Gang: zwei von sieben Reaktoren abgeschaltet, Laufzeit von drei weiteren endet 2025; kostspieliger Deal der Regierung mit Betreiber für Laufzeitverlängerung der beiden 39 Jahre alten anderen Reaktoren bis 20354 bei halb staatlichem Betrieb; 100 Mio. Euro Fördermittel für „Entwicklung“ von SMR-Projekten
Ökostrom-Anteil: 32 %, stark steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 17 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 8 Jahren
Erneuerbaren-Realität: Verdopplung der Stromproduktion aus Wind- und Solaranlagen in den vergangenen fünf Jahren; politischer Beschluss zur Verdreifachung der Offshore-Windkraft

Tschechien

Tschechien.png

Ökostrom-Anteil: 17 %, moderat steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 9 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 20 Jahren

Schweden

Schweden.png

Ökostrom-Anteil: 84 %, schwach steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 3 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 6 Jahren

Deutschland

Schweden.png

Ökostrom-Anteil: 53 %, moderat steigend
Erneuerbaren-Wachstum: + 9 %/Jahr, d.h. > 100 % eE in 8 Jahren

Grafiken: Veränderungen bei Stromerzeugung (brutto) und -verbrauch (brutto) ausgewählter Länder in den vergangenen 20 Jahren (2023 verglichen mit 2003), in Milliarden Kilowattstunden. Um die Entwicklungen in Ländern mit unterschiedlich großem Stromverbrauch vergleichbar zu machen, ist die Skalierung der Y-Achse an den Stromverbrauch 2023 angepasst. Die Höhe der Balken gibt also (unabhängig von den Zahlenwerten) die Bedeutung der Veränderung für die Stromversorgung des jeweiligen Landes wieder.
Ökostrom-Anteil: Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch 2023
Erneuerbaren-Wachstum: In den vergangenen 20 Jahren nahm die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im Schnitt um … % jährlich zu. Bei gleichbleibender Wachstumsrate und unverändertem Stromverbrauch wäre in … Jahren ein Ökostromanteil von mehr als 100 % erreicht.
Quellen: Eurostat 2024 (Zahlen), Ember 2024 (Zahlen), WNISR 2023 (Zahlen und Infos, sofern nicht anders angegeben)

1 Handelsblatt, 07.05.2024, 2 Montel, 11.04.2024, 3 www.eoliennesenmer.fr, 4 The Brussels Times, 21.02.2024

Legende Schein und Sein Grafiken.JPG
Dieser Text erschien erstmalig im .ausgestrahlt-Magazin 61 (Juni-September 2024)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt im .ausgestrahlt-Magazin 61 "Atom-Streit in Europa"

weiterlesen:

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    Bei der Wahl des Europäischen Parlaments am 9. Juni 2024 geht es auch darum, weiteren Einfluss der Atomindustrie in der EU zu verhindern. Aber wie stehen die einzelnen Parteien zur Atomkraft? Wie kann man Anti-Atom-Positionen stärken? Und was kann man den Pro-Atom-Positionen entgegnen?
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    26.04.2024: Die Erneuerbaren haben die AKW längst ersetzt, die Reaktoren sind im Rückbau. Selbst weltweit spielt Atomkraft nur noch eine marginale Rolle. Doch die Rechten wüten weiter gegen die Energiewende. Heute: die angeblichen #AKWfiles
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Armin Simon

Armin Simon, Jahrgang 1975, studierter Historiker, Redakteur und Vater zweier Kinder, hat seit "X-tausendmal quer" so gut wie keinen Castor-Transport verpasst. Als freiberuflicher Journalist und Buchautor verfasst er für .ausgestrahlt Broschüren, Interviews und Hintergrundanalysen.

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