Der Atom-Riese

03.08.2023 | Anna Stender
Protest gegen Rosatom
Protest gegen Rosatom
Foto: atomstadt-lingen

Der russische Staatskonzern Rosatom ist der größte Player im weltweiten Atomgeschäft. Im Auftrag des Kreml verbreitet er Atomkraft in alle Welt – und ist auch am Angriff auf die Ukraine beteiligt. Ein Überblick

Der Schock über den russischen Einmarsch in die Ukraine ist noch frisch, als russische Streitkräfte am 4. März 2022 das Atomkraftwerk Saporischschja einnehmen. Seitdem ist es besetzt, wird immer wieder Ziel von Angriffen. Mindestens sieben Mal war die Verbindung zum Stromnetz vollständig unterbrochen, nur Dieselgeneratoren lieferten den notwendigen Strom zur Kühlung der sechs Reaktoren und der Brennelemente-Lager im größten AKW Europas.

Ein Werkzeug Putins

Von Anfang an beteiligt an der kriegerischen Okkupation des AKW: der russische Atomkonzern Rosatom, eine Mischung aus Behörde und Staatskonzern mit über 250.000 Mitarbeiter*innen. Das direkt dem Kreml unterstellte Konstrukt besteht aus mehr als 300 Unternehmen und bündelt den gesamten Nuklearsektor Russlands, vom Uranabbau über AKW bis zu den Atomwaffen. Seit der völkerrechtswidrigen Annektion von Teilen der Ostukraine Anfang Oktober 2022 betrachtet Russland auch das ukrainische AKW Saporischschja als sein Eigentum. Eigens für dessen Übernahme gründet Rosatom wenige Tage zuvor eine neue Tochtergesellschaft. Und über eine Schutzzone rund um das AKW verhandelt der Chef der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEO), Rafael Grossi, im Dezember 2022 nicht etwa mit Regierungsvertretern, sondern mit Rosatom-Chef Alexej Lichatschow.

Während der Kreml in den ersten Monaten behauptet, die Anlage sei unter russischen „Schutz“ gestellt, sprechen Augenzeugenberichte eine andere Sprache: Demnach wissen die Rosatom-Mitarbeiter*innen von der gewaltsamen Behandlung der Belegschaft, sind an der Auswahl von Artillerie-Zielen rund um das Gelände beteiligt und wirken an der Festnahme Hunderter ukrainischer Mitarbeiter*innen mit. Ohne die aktive Mithilfe seines Staatskonzerns wäre Russland nicht in der Lage gewesen, das AKW zu übernehmen und zu betreiben. Und durch seine Komplizenschaft bei der Besetzung gefährdet Rosatom dort tagtäglich mutwillig die nukleare Sicherheit.

Der Präsident des ukrainischen AKW-Betreibers Energoatom Petro Kotin, bis 2020 Leiter des AKW Saporischschja, berichtet in einem Interview mit dem Tagesspiegel im Oktober, dass viele mit der Anlage vertraute ukrainische Mitarbeiter*innen, die sich keinen neuen Vertrag mit Rosatom unterschrieben hätten, verhaftet, gefoltert und durch Russ*innen ersetzt worden seien. Rund 100 Fachleute der Rosatom-Tochter Rosenergoatom halten sich demnach in der Anlage in Saporischschja auf. Rosatom habe die technische Kontrolle über das AKW übernommen – obwohl Energoatom diese formal nie abgegeben habe. Das Atomkraftwerk mit seinen sechs Reaktoren werde seit Kriegsbeginn nur mangelhaft instandgehalten und sei inzwischen in einem sehr schlechten Zustand.

Nukleare Außenpolitik

Rosatom ist nicht einfach irgendein AKW-Betreiber, sondern die rechte Hand des Kremls – und zugleich der Global Player im Atombusiness. Ende 2021 war jedes sechste AKW weltweit von Russland gebaut, mehr als die Hälfte davon in anderen Ländern. Von 20 aktuellen Neubauprojekten Rosatoms liegen gar 17 außerhalb Russlands.

Wo selbst Staaten zuletzt nicht in der Lage waren, AKW zu finanzieren, sprang vielfach Rosatom in die Bresche – oft mit von der russischen Regierung garantierten Krediten, in manchen Fällen auch mit langfristigen Verträgen über die Lieferung von Brennstoff. Die extremste Form dieser „nuklearen Außenpolitik“ ist das Modell „Build-Own-Operate“, das Rosatom beim türkischen AKW Akkuyu zum ersten Mal anwendet. Der Konzern baut und finanziert die Anlage nicht nur. Er hat sich auch verpflichtet, sie während ihrer gesamten Lebensdauer zu betreiben. Auf diese Weise fördert Rosatom Ausbau und weltweite Verbreitung von Atomkraft und sichert Russland zugleich geopolitischen Einfluss für Jahrzehnte.

Feuerwerk zum Baustart des AKW Akkuyu in der Türkei
Foto: Rosatom
Feuerwerk zum Baustart des AKW Akkuyu in der Türkei: Zementiert wird nicht nur die Bodenplatte des Reaktors, sondern auch jahrzehntelange Abhängigkeiten

Auf den ersten Blick ist kaum nachzuvollziehen, warum die IAEO Rosatoms Vorgehen in der Ukraine und insbesondere im AKW Saporischschja nicht schärfer kritisiert, dem Unternehmen die Unterstützung bei der Expansion in andere Länder nicht aufgekündigt hat. Doch der Einfluss von Rosatom in der IAEO reicht bis in die höchsten Ebenen: Den Posten des stellvertretenden Generaldirektors etwa hat Mikhail Chudakov inne, seines Zeichens ehemaliger Manager von Rosenergoatom.

Auch für die Atom-U-Boot-Flotte und die russischen Atomsprengköpfe ist Rosatom zuständig. Erst im Dezember 2022 hob Präsident Wladimir Putin in einer Ansprache an die Rosatom-Mitarbeitenden den enormen Beitrag hervor, den das Unternehmen zur Entwicklung der neuesten Waffensysteme und militärischen Ausrüstung und deren Einsatz im Kampf leiste. Möglicherweise unterstützt Rosatom auch die russische Rüstungsindustrie dabei, westliche Sanktionen zu umgehen. Die Washington Post berichtete im Januar von einem Brief, in dem es um ein Treffen zwischen Rosatom, dem russischen Verteidigungsministerium und Vertreter*innen der russischen Rüstungsindustrie ging. Offenbar hatte Rosatom angeboten, bestimmte Waren zu beschaffen, die sanktionierte Unternehmen im Westen nicht mehr kaufen können, darunter wichtige Komponenten für Raketentreibstoff und Batterien für Panzer und Raketenabwehrsysteme.

Abhängigkeiten erschweren Sanktionen

Sanktionen gegen Rosatom, obwohl vielfach gefordert, fehlen jedoch auch im 11. Sanktionspaket der EU von Ende Juni 2023 – denn auch in Europa ist der Einfluss des russischen Atomkonglomerats groß. Ein Fünftel des in der EU verbrauchten Urans stammt direkt aus Russland, darüber hinaus betreibt Rosatom auch Uranminen in Kanada, Südafrika, Australien, den USA und Kasachstan oder ist daran beteiligt. Außerdem reichert der russische Staatskonzern ein Drittel des in der EU benötigten Urans an – eine Voraussetzung, um Uran als AKW-Brennstoff einsetzen zu können. Mehrere osteuropäische Staaten sowie Finnland, die AKW russischer Bauart betreiben, sind auf von Rosatom gefertigte Brennelemente angewiesen. Ungarn etwa, schärfster Gegner von EU-Sanktionen gegen Rosatom, deckt mehr als 40 Prozent seines Strombedarfs mit Reaktoren russischer Bauart – und hat mit Rosatom den Bau von zwei weiteren Reaktoren im AKW Paks II vereinbart. Die Steuersysteme dafür soll laut Vertrag Siemens Energy liefern. Allerdings steht die Exportgenehmigung dafür bisher noch aus.

Eine zentrale Rolle dabei, dass Rosatom von der EU noch immer nicht sanktioniert ist, dürfte auch die „strategische Kooperation“ spielen, die der französische Staatskonzern Framatome mit Rosatom vereinbart hat – siehe Artikel „Enge Bande“. Denn Frankreichs Wort hat in der EU Gewicht. Erst kürzlich gründeten die beiden Staatsunternehmen sogar noch ein Joint Venture zum Ausbau der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen. Das Projekt könnte Rosatoms Einfluss sichern und ausbauen – und Wege öffnen, selbst bei möglichen Sanktionen weiter im Geschäft zu bleiben.

Selbst von der Stilllegung und dem Rückbau der deutschen AKW profitiert Rosatom, denn auch die bayerische Nukem Technologies in Alzenau ist Teil des russischen Konzerns. Einer der Nukem-Geschäftsführer ist übrigens Vorsitzender des deutschen Atomlobby-Verbands KernD …

Auch die USA, das Land mit den meisten AKW weltweit, bezieht ein Viertel seines Urans von Rosatom. Kein Wunder, dass der Konzern auch Sanktionen aus Washington weitgehend vermeiden konnte.

Unterm Strich verdiente Rosatom im Jahr 2022 sogar mehr am Auslandsgeschäft als in den Jahren zuvor.

Schwerpunkt-Thema Rosatom

Diese Artikel gehören zur Serie über den Atomkonzern Rosatom aus dem .ausgestrahlt-Magazin 59:

Einen Überblick über die engen Handelsbeziehungen und Kooperationen sowie die starke Abhängigkeit der Euratom-Länder von Rosatom-Unternehmen gibt ein Hintergrundpapier des österreichischen Umweltbundesamtes.

 

Weiterlesen & Aktiv Werden:

  • Atomfabrik Lingen: Kein Deal mit Rosatom!
    Jetzt Unterschreiben! Landes- und Bundesregierung müssen den Einstieg des russischen Staatskonzerns in die Brennelemente-Fertigung in Lingen verhindern.
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    09.03.2023 - Bereits seit einem Jahr ist das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ostukraine unter russischer Kontrolle. Die Gefahr eines Unfalls ist noch immer hoch. Andere Atomanlagen in der Ukraine sind ebenfalls in Gefahr.

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    08.09.2022 - Russische Brennstäbe "Made in Germany" für AKW im Ausland? Was absurd klingt, soll in Lingen offenbar umgesetzt werden. Atomkraftgegner:innen erwarten dort die Anlieferung von Uranhexafluorid aus Russland - und fordern ein umgehendes Atom-Embargo.

  • Atomares Pulverfass
    24.08.2022 - Die Welt blickt mit Sorge auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das seit Wochen immer wieder unter Beschuss steht. Von einer „Grabesstunde“ sprach Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), in einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Die dramatische Situation zeigt, dass Atomkraft in instabilen Zeiten noch gefährlicher ist als sowieso schon.
  • Ukraine-Krieg bringt Urangeschäfte in Bewegung
    11.3.2022: Als Antwort auf den Angriff auf die Ukraine hat die Betreiberfirma der Urananreicherungsanlage Gronau die Uran-Geschäfte mit Russland gestoppt. Atomkraftgegner*innen warnen unterdessen davor, dass in den von Kämpfen betroffenen ukrainischen Meilern Brennstoff aus Deutschland verwendet wird - und fordern einen umgehenden Exportstopp.
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Anna Stender

Anna Stender kommt aus Münster und hat bereits in den Neunzigerjahren gegen Castortransporte nach Ahaus und Gorleben demonstriert. Sie ist studierte Fachübersetzerin und hat sich nach Stationen in Berlin, Köln, Bangalore, Newcastle-upon-Tyne und Jülich entschieden, in Hamburg zu bleiben. Seit 2020 ist sie als Redakteurin bei .ausgestrahlt, wo sie vor allem für den Print-Bereich schreibt.

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