Russische Atom-Diplomatie gefährdet Sicherheit Europas

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Foto: Szeder László / wikimedia / CC 3.0

Nicht nur Gas-, Kohle- und Öl-Importe gefährden die Versorgungssicherheit Europas. Auch bei der Atomkraft bestehen Abhängigkeiten von Russland, deren diplomatische Auswirkungen schon jetzt sichtbar sind. Die Aufnahme von Atomkraft in die EU-Taxonomie würde diese noch verstärken.

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine diskutiert Europa, wie die Energieabhängigkeit von Russland reduziert werden kann. Im Fokus steht vor allem der Gas-Import: 55 % des fossilen Gases, das in Deutschland verbraucht wird, kommt aus Russland. In der gesamten EU sind es 41 %. Auch Öl und Kohle kommen zu einem großen Teil aus Russland. Diese Abhängigkeiten haben bislang beispielsweise dazu geführt, dass die Rohstofflieferungen und die sie finanzierenden Banken von den Sanktionen gegen Russland ausgenommen sind.

Die Rolle Russlands bei der Atomkraft wird bislang weniger stark diskutiert. Doch auch bei den Uranlieferungen, beim Atommüll und bei der Atomtechnik bestehen strukturelle Abhängigkeiten, die Russland gezielt fördert und politisch ausnutzt. Nicht ohne Grund hat das EU-Parlament in seiner Resolution zum Ukraine-Krieg die Mitgliedsstaaten aufgefordert, jegliche Zusammenarbeit mit Russland im nuklearen Bereich zu beenden – insbesondere Kooperationen mit dem russischen Atomkonzern Rosatom und allen Tochterfirmen. Die von der EU geplante Aufnahme der Atomkraft in den Katalog der „nachhaltigen Geldanlagen“, die EU-Taxonomie, würde diese Abhängigkeiten weiter aufrechterhalten und sogar noch vergrößern – und dafür sorgen, dass Geldanleger*innen und Steuerzahler*innen sie mitfinanzieren.

Wie man es auch immer dreht und wendet: Eine schnelle Energiewende hin zu 100% erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Energieeinsparung ist der einzige Ausweg nicht nur aus der Klimakrise. Sie ist auch der einzige Weg aus den geopolitischen Abhängigkeiten, die mit dem fossil-nuklearen Energiesystem unweigerlich verbunden sind und die vor allem autoritäre Staaten begünstigen.

Nukleare Abhängigkeiten …

Abhängigkeiten von Russland bestehen beispielsweise beim Brennstoff: 20 % des in der EU genutzten natürlichen Urans wurden 2020 aus Russland importiert, zeigen die Zahlen der Euratom-Versorgungsagentur (ESA). Weitere 20 % stammten aus Kasachstan, einem langjährigen Verbündeten Russlands. Auch in Deutschland bestehen diese Abhängigkeiten. Eine Sprecherin von PreussenElektra, Tochterfirma von e.on und verantwortlich für das AKW Isar 1, sagte neulich der Tagesschau: "In den letzten Betriebsjahren unserer Kraftwerke haben wir das für die Brennelemente benötigte Uran aus Kasachstan und Russland sowie in geringen Mengen aus Kanada bezogen."

Gravierender noch ist die Abhängigkeit beim angereicherten Uran: 26 % des angereicherten Urans, das in der EU verbraucht wird, stammt aus Russland. Die insbesondere in Osteuropa verbreiteten WWER-Reaktoren russischer Bauart benötigen zudem Brennelemente, die aktuell nur von Russland hergestellt werden können. Die Euratom-Versorgungsagentur ESA bewertet dies als „Grund zur Sorge“ und „signifikante Verletzbarkeit“ der EU.

Bis vor Kurzem gab es sogar Pläne, diese Abhängigkeiten bei der Brennstoffherstellung noch zu vergrößern: Die russische Rosatom-Tochter TVEL zog einen Antrag auf Beteiligung an der Framatome-Brennelementefabrik in Lingen erst nach dem Angriff auf die Ukraine kurzfristig wieder zurück. Kritiker*innen hatten seit Längerem gewarnt, dass eine solche Beteiligung zur Unterwanderung von EU-Sanktionen dienen könnte.

Nach dem Debakel des französischen Neubau-Reaktortyps EPR ist Russland das einzige Land, das in nennenswertem Umfang im Ausland Reaktoren konstruiert. Finnland hat das Vorhaben, in Hanhikivi mit russischer Hilfe einen neuen Reaktor zu bauen, mittlerweile in Frage gestellt. Osteuropäische Länder wie Ungarn (Paks II 1 & 2) und Bulgarien (Belene 1 & 2) bleiben bislang jedoch dabei (siehe unten).

Gern gesehen ist zudem nicht nur in Deutschland, dass mit Russlands Hilfe Teile des Atommülls außer Sicht – jedoch nicht aus der Welt – gebracht werden können: In Deutschland betrifft dies vor allem die Verschiebung von Abfällen aus der Urananreicherungsanlage in Gronau nach Russland. Auch Frankreich exportiert einen Teil seines niedrig- und mittelradioaktiven Atommülls, als „Wertstoff“ deklariert, nach Russland, wo die Fässer unter freiem Himmel dahinrosten.

In der EU sind aktuell insgesamt 18 Reaktoren auf Brennstäbe aus russischer Produktion angewiesen:

  • Loviisa 1 und 2 in Finnland,
  • Temelin 1 und 2 sowie Dukovany 1 bis 4 in Tschechien,
  • Paks 1 bis 4 in Ungarn,
  • Bohunice 3 und 4 sowie Mochovce 1 und 2 in der Slowakei sowie
  • Kosloduj 5 und 6 in Bulgarien.

Hinzu kommen die Reaktoren Mochovce 3 und 4, die die Slowakei nach 37 Jahren Bauzeit, jahrelanger Bauunterbrechung und trotz zahlreicher gravierender Sicherheitsmängel fertig stellen will. Mochovce 3 soll 2022 in Betrieb gehen, Mochovce 4 im Jahr 2023.

Quelle: Spiegel

… und politische Folgen

Verschiedene Beispiele zeigen die Wirkmächtigkeit dieser Abhängigkeit. So landete Anfang März eine russische Maschine mit Brennelementen in der Slowakei. Eigentlich ist der Luftraum dort für russische Maschinen gesperrt – doch neben humanitären Einsätzen sind Lieferungen von nuklearem Brennstoff davon ausgenommen. Die Slowakei ist zu 100 % abhängig von russischen Brennelementen. Gleichzeitig möchte die Slowakei in Mochovce  noch zwei weitere Blöcke russischer Bauart für bis zu 14 Milliarden Euro fertigstellen und  für Laufzeitenverlängerungen ihre bestehenden Kraftwerke Bohunice 3 & 4, Mochovce 1 & 2 für bis zu 3,2 Milliarden Euro in Stand setzen –  natürlich mit EU-Mitteln und dank EU-Taxonomie vergünstigten Krediten.

Auch die Weigerung von Präsident Victor Orbán, Waffenlieferungen über das Staatsgebiet Ungarns in die Ukraine zuzulassen, ist vor dem Hintergrund der atomaren Abhängigkeiten zu sehen. Ein Grund liegt in den beiden geplanten Atomkraftwerksneubauten Paks II 1 und 2, die 2022 mit einem geschätzten Investitionsvolumen von bis zu 24 Milliarden Euro starten sollen. Russland will den Großteil der Baukosten über einen Kredit vorfinanzieren – ein Vertrag, der unter persönlicher Beteiligung des russischen Präsidenten und Kriegsherrn Wladmir Putin zustande kam. Orbán betont, dass das Projekt weitergeführt werden solle und deshalb auch nicht unter die Sanktionen fallen dürfe. Die ungarische Opposition fordert dagegen mittlerweile, das Neubauprojekt auszusetzen.

In Bulgarien sorgt das Belene-Projekt, das mit zwei russischen Atomreaktoren gebaut werden soll, für ernsthafte politische Spannungen unter den Koalitionspartnern. Die liberalen, pro-europäischen Parteien wollen das Projekt kippen. Die pro-russische Bulgarische Sozialistische Partei hält hingegen am Neubau-Projekt fest. Bulgarien ist zu 100 % auf russischen Brennstoff für seine Reaktoren im Atomkraftwerk Kosloduj und zu 70 % von russischem Gas abhängig. Gleichzeitig sind für bis zu 1,6 Milliarden Euro eine Ertüchtigung der beiden Blöcke in Kosloduj für eine Laufzeitenverlängerung sowie der potentielle Neubau eines weiteren Reaktors in Kosloduj und zwei Reaktoren in Belene für insgesamt bis zu 30 Milliarden Euro im Gespräch. Auch für die Finanzierbarkeit dieser Pläne spielt die Aufnahme von Atomkraft in die EU-Taxonomie eine entscheidende Rolle.
 
Ähnliche Abhängigkeiten werden auch außerhalb der EU sichtbar. Beispielsweise ist der Uran-Import vom US-amerikanischem Importstopp für Energieimporte ausgenommen. Die US-amerikanischen Atomstrombetreiber hatten die US-Regierung aufgefordert, den Uran-Handel von den Sanktionen gegen Russland auszunehmen. Die US-Atomindustrie sei „einfach süchtig nach russischem billigem Uran“, sagte eine anonym bleibende Quelle.

Atom und Erdgas raus aus der Taxonomie

Vor diesem Hintergrund ist die geplante Aufnahme von Erdgas und Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige Finanzanlagen noch absurder geworden.

Die EU-Kommission hat die Aufnahme damit begründet, dass es keine technisch und ökonomisch machbare CO2-arme Alternative gebe, um den Energiebedarf „in ausreichendem Umfang in kontinuierlicher und zuverlässiger Weise zu decken“ (Commission Delegated Regulation, S. 8). Die EU-Kommission, kritisiert die EU-eigene Berater*innenplattform „nachhaltige Finanzen“, interpretiere damit den Gesetzestext zur Taxonomie auf unzulässige Art und Weise um und vermische Aspekte ökologischer Nachhaltigkeit mit energiepolitischen und wirtschaftlichen Aspekten wie der Versorgungssicherheit.

Vor dem Hintergrund des russischen Ukraine-Krieges wird jetzt ein weiteres Mal deutlich, wie kurzsichtig und kontraproduktiv diese Argumentation ist. Die Aufnahme von fossilem Gas und Atomkraft in die EU-Taxonomie trägt gerade nicht zur Versorgungssicherheit bei. Im Gegenteil, sie zementiert diese Technologien und die Abhängigkeiten, die diese mit sich bringen. Jeder Euro, der – auch aufgrund der Taxonomie – in Erdgas und Atomkraft fließt, fehlt für eine wirkliche Energiewende.
 
Die EU-Kommission muss deshalb den Delegierten Rechtsakt zu Gas und Atomkraft umgehend zurückziehen und damit den Weg für eine wissenschaftsbasierte, wirkungsvolle Taxonomie frei machen.

weiterlesen:

  • Versorgungssicherheit in Kriegszeiten: Besser ohne Atomkraft
    2.3.2022: Die üblichen Verdächtigen fordern im Schatten des Ukrainekrieges mal wieder Laufzeitverlängerungen für Kohle- und Atomkraftwerke. Doch das sind Scheindebatten: Für Energieversorgung und Versorgungssicherheit helfen solche Verlängerungen nichts, selbst wenn sie möglich wären. Die Debatten verhindern aber erneut die nötigen Schritte für eine schnelle Energiewende.
  • Atomares Risiko von Osten
    9.2.2022: Die Slowakei will trotz erheblicher Sicherheitsbedenken einen veralteten Meiler in Betrieb nehmen. Dem entgegen stehen in Slowenien die Chancen gut, dass das einzige AKW im Land vom Netz gehen muss.
  • EU-Taxonomie analysiert: Yellow Deal statt Klimaschutz
    5.1.2022: Nach langem Streit will die EU Atomkraft und Gas zukünftig als ‚grün‘ klassifizieren. Damit wird der angestrebte ‚Green Deal‘ durch einen dreckigen ‚Yellow Deal‘ ersetzt – zu Lasten von Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Eine Analyse.
  • Mochovce: „Verschrotten ist die beste Option“
    20.5.2021: Mitten in Europa soll ein Atomkraftwerk den Betrieb aufnehmen dürfen, das technisch völlig veraltet ist und wo sich schon während der Bauphase eine Reihe von Skandalen ereignet haben. Atomkraftgegner*innen gehen gegen diese „verpfuschte Höllenmaschine“ gerichtlich vor.
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Julian Bothe

Julian Bothe arbeitet bei .ausgestrahlt zum Thema Klimakrise und Atomkraft. Er ist ausgebildeter Geograph und beschäftigt sich seit langem mit Energiefragen. Seit seiner Jugend ist er aktiv in sozialen Bewegungen – für Bewegungsfreiheit, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit.

 

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Foto: privat

Timo Luthmann

Timo Luthmann hat sich in der Anti-Atombewegung Ende der 1990er Jahre politisiert und war in vielen verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv. Seit 2009 hat er die Klimagerechtigkeitsbewegung mit aufgebaut und sich seit 2017 im Bereich Klimagerechtigkeit und Landwirtschaft engagiert. Er hat das "Handbuch Nachhaltiger Aktivismus" geschrieben.

 

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